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Berufsunfähig bei Chronischem Fatigue Syndrom (CFS)

Mit nunmehr veröffentlichtem Urteil vom 13.09.2023 (Az.: 20 U 371/22) hat das Oberlandesgericht Hamm die Berufsunfähigkeit einer Grundschullehrerin anerkannt, die geltend gemacht hat, am Chronischen Fatigue Syndrom erkrankt zu sein. Der Lehrerin wurde ab dem 29.04.2016 bis zum 06.05.2016 und vom 10.05.2016 bis zum 16.05.2017 von dem behandelnden Arzt Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Es schloss sich ein gescheiterter Versuch der beruflichen Wiedereingliederung an. Ab dem 21.08.2017 war die Klägerin nach ärztlicher Bescheinigung erneut durchgehend arbeitsunfähig erkrankt, bis sie durch Bescheid der Bezirksregierung F. vom 06.12.2017 aufgrund der Ergebnisse einer amtsärztlichen Untersuchung vom 11.10.2017 mit dem Ablauf des 31.12.2017 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt wurde. Eine Untersuchung der Klägerin am 26.10.2017 an der N. (G.) ergab als Diagnose ein Chronisches Fatigue Syndrom. Mit Bescheid vom 21.10.2021 wurde die fortgesetzte Dienstunfähigkeit der Klägerin festgestellt. Seit dem 16.05.2022 ist ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Sowohl Landgericht Detmold als auch Oberlandesgericht Hamm sahen auf Grundlage eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens die Klägerin als mindestens 50 % berufsunfähig an.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Die Klägerin, eine im Dezember 1996 verbeamtete Grundschullehrerin, hat bei der Beklagten ab dem 01.12.2003 eine selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung mit Dynamik für 24 Jahre genommen, also längstens bis zum 01.12.2027. Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung (Stand: April 2003) zugrunde.

 

Nach Nr. 1.1 der Bedingungen umfasst die Versicherung die monatliche Rente und eine Beitragsbefreiung, wenn der Versicherte mindestens 50 % berufsunfähig ist, und zwar nach Nr. 1.2 nach Ablauf des Monats, in dem Berufsunfähigkeit eingetreten ist.

 

Berufsunfähigkeit ist in Nr. 2 der Bedingungen wie folgt definiert:

 

2. Was Ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?

(2.1) Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen ausgestaltet war, auszuüben. Wir verzichten auf eine abstrakte Verweisung.

 

Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn der Versicherte in zumutbarer Weise

 

a) eine andere Tätigkeit konkret ausübt, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung hinsichtlich Vergütung und sozialer Wertschätzung entspricht;

 

b) als Selbständiger nach betrieblich sinnvoller Umorganisation ohne erheblichen Kapitaleinsatz innerhalb seines Betriebs noch eine Tätigkeit ausüben könnte, die seiner Stellung als Betriebsinhaber angemessen ist, oder

 

c) als Angestellter nach Umgestaltung seines Arbeitsplatzes weiter tätig sein könnte und der Arbeitgeber der Umgestaltung zustimmt.

(…)

 

(2.2) Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die in Nr. 2.1 genannter Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen erfüllt sind.

 

(2.3) Ist der Versicherte sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind[,] vollständig oder teilweise außerstande gewesen, seinen zuletzt ausgeübten Beruf oder eine der in Nr. 2.1 genannten Tätigkeiten auszuüben, gilt die Fortdauer dieses Zustandes als vollständige oder teilweise Berufsunfähigkeit. Wir erbringen in diesem Fall unsere Leistungen vorbehaltlich der Nr. 1.3 rückwirkend ab Beginn dieses sechsmonatigen Zeitraums.

 

Der Klägerin wurde ab dem 29.04.2016 bis zum 06.05.2016 und vom 10.05.2016 bis zum 16.05.2017 von dem behandelnden Arzt Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Es schloss sich ein gescheiterter Versuch der beruflichen Wiedereingliederung an. Ab dem 21.08.2017 war die Klägerin nach ärztlicher Bescheinigung erneut durchgehend arbeitsunfähig erkrankt, bis sie durch Bescheid der Bezirksregierung F. vom 06.12.2017 aufgrund der Ergebnisse einer amtsärztlichen Untersuchung vom 11.10.2017 mit dem Ablauf des 31.12.2017 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt wurde. Eine Untersuchung der Klägerin am 26.10.2017 an der N. (G.) ergab als Diagnose ein Chronisches Fatigue Syndrom. Mit Bescheid vom 21.10.2021 wurde die fortgesetzte Dienstunfähigkeit der Klägerin festgestellt. Seit dem 16.05.2022 ist ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt.

 

Mit Schreiben vom 06.12.2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Versicherung unter Hinweis auf ein chronisches Fatigue Syndrom bestehend seit April 2016. Die Beklagte nahm die Leistungsprüfung auf und holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten ein, das der Sachverständige H., der dritte von der Beklagten angefragte Gutachter, aufgrund Untersuchung vom 28.11.2018 vorlegte. Nach Bearbeitung von Rückfragen der Beklagten durch den Gutachter im Frühjahr 2019 gab die Beklagte im Juli 2019 ein vom Sachverständigen H. angeregtes internistisches Gutachten bei dem Sachverständigen L. in Auftrag, das dieser schließlich im August 2020 vorlegte und worin er – anders als der Sachverständige H. – zu der Feststellung kam, dass Berufsunfähigkeit vorliege. Aggravation schlossen die Gutachter der Beklagten aus. Die Beklagte folgte der Beurteilung von L. nicht.

 

Die Klägerin hat behauptet, sie habe zuletzt in gesunden Tagen neben ihrer (eigentlichen) Tätigkeit als Grundschullehrerin an der Grundschule als Fachseminarleiterin in der Referendarausbildung und als Prüferin im Staatsexamen gearbeitet. Sie habe bei 28 Schulstunden etwa 41 Stunden in der Woche gearbeitet. Als Prüferin in der zweiten Staatsprüfung sei sie etwa an zehn Tagen im Jahr tätig gewesen. Seit dem 10.05.2016 sei sie dienstunfähig, jedenfalls aber zu mindestens 50% berufsunfähig. Sie leide an einem chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) und könne daher nicht mehr ihre bisherige Tätigkeit ausüben. Sie ist der Ansicht gewesen, die Beklagte habe bereits 2018 kein psychiatrisches, sondern ein endokrinologisch-internistisches Gutachten einholen müssen und daher die Leistungsprüfung schuldhaft verzögert, so dass spätestens zum 01.01.2019, und damit vor Mandatierung ihrer jetzigen Prozessbevollmächtigten im Mai 2019, Verzug eingetreten sei.

 

 

Das OLG begründet sein Urteil wie folgt:

 

Die Berufung der Beklagten ist ganz überwiegend unbegründet (1.). Die Berufung der Klägerin ist vollständig unbegründet (2.).

 

1.

Die Berufung der Beklagten bleibt weitgehend erfolglos.

 

Die Klägerin ist in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf als Grundschullehrerin, die neben dem Unterricht in der Primarstufe in der Ausbildung von Lehramtsanwärtern und als Prüferin im Staatsexamen arbeitete (sogleich a), berufsunfähig (b), wie es im Übrigen schon in dem von der Beklagten selbst eingeholten Gutachten L. aus August 2020 geschrieben steht. Soweit die Berufung Berufsunfähigkeit auch noch ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen I. bestreitet und weiterhin insgesamt die Klageabweisung beantragt, ist sie offensichtlich unbegründet. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt, wie nach der erneuten Anhörung des Sachverständigen I. zur Überzeugung des Senats feststeht, sogar schon seit jedenfalls Mai 2016 vor (c), so dass die Klägerin, wie vom Landgericht erkannt, die bedingungsgemäßen Leistungen ab Juni 2016 verlangen kann (d). Lediglich im Hinblick auf Nebenforderungen hat die Berufung der Beklagten teilweise Erfolg.

 

a)

Es steht für den Senat fest, dass die Klägerin vollschichtig als verbeamtete Grundschullehrerin - immerhin das Amt selbst hat die Beklagte mit der Klageerwiderung unstreitig gestellt - zuletzt bis April 2016 neben ihrem Unterricht in der Ausbildung und Prüfung von Lehramtsanwärtern tätig war. Ihre Tätigkeit gestaltete sich wie folgt, wobei in verschiedenen Schul-(halb-)jahren die zeitlichen Anteile unterschiedlich sein konnten, was aber für die Entscheidung unerheblich ist. An einer Grundschule unterrichtete sie etwa wöchentlich insgesamt acht Unterrichtsstunden verteilt auf zwei Wochentage. Mit dieser Tätigkeit verbunden waren Konferenzen, Pausenaufsichten und Elterngespräche. Daneben war sie als Fachleiterin in einem Seminar für Lehramtsanwärter tätig. Hier unterrichtete sie jedenfalls wöchentlich an einem Tag die Anwärter im Seminar und nahm - 14-täglich - im Rahmen eines solchen Seminartages an Dienstbesprechungen teil. An den beiden dann übrigen Wochentagen absolvierte sie Unterrichtshospitationen der Lehramtsanwärter, wobei sie dem von den Referendaren gehaltenen Unterricht beiwohnte und die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu Ausbildungszwecken mit den Referendaren reflektierte. Außerdem war die Klägerin als Prüferin im Staatsexamen tätig. Auf die näheren Einzelheiten dieser Tätigkeiten kommt es aufgrund des Krankheitsbildes der Klägerin und der damit einhergehenden Beeinträchtigungen, wie noch dargelegt wird, nicht an.

 

aa)

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte, die zum Berufsbild Auskünfte bei der Klägerin einholen durfte und eingeholt hat, sich zu dem von der Klägerin jedenfalls im Berufungsverfahren detailliert und konkret geschilderten Tätigkeitsbild überhaupt in rechtlich beachtlicher Weise einfach mit Nichtwissen erklären und dieses pauschal bestreiten kann (vgl. Wermeckes/Seggewiße, VersR 2019, 271, insbesondere auch unter III 3 b). Es spricht viel dafür, dass es in dem zwischen den Parteien bestehenden Vertragsverhältnis, welches in besonderer Weise von Treu und Glauben geprägt ist und in welchem - im Übrigen - die Klägerin als Versicherungsnehmerin zur Vermeidung von Rechtsnachteilen jedenfalls bis zur Leistungsablehnung gehalten gewesen ist, stets vollständig und wahrheitsgemäß Angaben zu machen (Obliegenheiten vor Vertragsschluss und nach dem Versicherungsfall), unbeachtlich ist, wenn der beklagte Versicherer ohne erkennbaren Anhalt, auch ohne Anhalt für irgendeine Falschangabe der Klägerin, und gleichsam ins Blaue hinein seiner Versicherungsnehmerin pauschal vorwirft, diese habe zu ihrer Tätigkeit falsche Angaben gemacht.

 

bb)

Jedenfalls im Streitfall hätte sich die Beklagte gemäß § 138 Abs. 2 ZPO näher erklären müssen. Dies gilt erst recht, nachdem die Klägerin im Berufungsrechtszug ihre Tätigkeit näher beschrieben und damit unter anderem die Informationen vorgetragen hat, die die Beklagte auf Seite 19 f. ihrer Klageerwiderung (eGA-I 491 f.) selbst angemahnt hatte.

Nachdem die Beklagte immerhin zugestanden hat, dass die Klägerin als beamtete Grundschullehrerin arbeitete, und die Klägerin auch Bezügemitteilungen des Landesamtes für Besoldung und Versorgung sowie Steuerbescheide vorgelegt hat, aus denen ihr Einkommen ersichtlich war, hätte die Beklagte zur wöchentlichen Arbeitszeit Konkretes vorbringen müssen, wenn sie diese bestreiten wollte. Außerdem war die Tätigkeitsbeschreibung Gegenstand der Leistungsprüfung der Beklagten und auch der von der Beklagten veranlassten umfangreichen Begutachtung. Es ist widersprüchlich, außergerichtlich die Schilderungen des Versicherungsnehmers hinzunehmen, um diese dann im Rechtsstreit schlicht "mit Nichtwissen" zu bestreiten. Erst recht ist es widersprüchlich, zunächst ergänzenden Vortrag anzumahnen und diesen dann gehaltenen Vortrag weiterhin - und sogar noch im nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 11.09.2023 - schlicht "mit Nichtwissen" zu bestreiten, nachdem der Prozessbevollmächtigte der Beklagten im Termin vor dem Senat zunächst ausdrücklich mitgeteilt hat, zum Tätigkeitsbild der Klägerin keine weiteren Fragen mehr zu haben.

 

cc)

Auch dies könnte jedoch letztlich dahinstehen. Der Senat ist nämlich - ganz unabhängig von dem Vorstehenden - von der Zuverlässigkeit der Angaben der Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung ohne jeden Zweifel überzeugt.

 

(1) Für die Feststellung eines bestrittenen Berufsbildes gilt der Maßstab des § 286 ZPO. Gerade dann, wenn der Versicherer konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Tätigkeitsbeschreibung des Versicherungsnehmers nicht aufzeigt, kann es, wenn die Angaben des Versicherungsnehmers glaubhaft sind, für die erforderliche Überzeugungsbildung genügen, diesen hierzu anzuhören (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 06.05.2020, 9 U 54/18, VersR 2020, 1301 ff., Rn. 22).

 

(2) Die Klägerin hat - im Übrigen auf Befragen des Prozessbevollmächtigten der Beklagten - ihre Tätigkeit im zweiten Schulhalbjahr 2015/2016 so beschrieben, wie sie der Senat vorstehend festgestellt hat. Die Klägerin hat, trotz ihres für den Senat verständlichen Ärgers angesichts der bis heute gänzlich verweigerten Leistungserbringung, ihre Tätigkeit, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen (dazu sogleich) und deren Auswirkungen auf ihre Tätigkeit bestimmt, aber sachlich und, was zunächst einmal die Tätigkeit angeht, uneingeschränkt glaubhaft geschildert. Dazu hat sie zum einen näher die - freilich weitgehend schon zum Allgemeinwissen gehörenden - Anforderungen beschrieben, die an eine Unterrichtsperson vor einer Grundschulklasse von 20 bis 30 Schülern gestellt werden. Sie hat zum anderen die Tätigkeit als Fachleiterin in einem Seminar für Lehramtsanwärter beschrieben und dabei zwischen dem fachlichen und didaktischen Unterricht für die Referendare an den "Seminartagen" einerseits und den Unterrichtshospitationen andererseits differenziert, in deren Rahmen die Referendare während des von ihnen vorbereiteten und gehaltenen Unterrichts von den Fachleitern beobachtet werden.

Diese Schilderungen der Klägerin waren so anschaulich, dass sich die Mitglieder des Senats unproblematisch in die jeweils von der Klägerin geschilderte Rolle (entweder als Grundschullehrerin oder als Fachleiterin) hineinversetzen konnten, und überzeugend. Die Klägerin hat ihre Tätigkeiten und die damit verbundenen Anforderungen konkret und ersichtlich - wie dies im Übrigen die Gutachter auch hinsichtlich der Schilderung der Beeinträchtigungen beurteilt haben - ohne Übertreibungen geschildert. Sehr plastisch hat sie etwa den Unterschied zwischen einer Einzel- und einer Gruppenhospitation beschrieben: Während sie sich bei letzterer gleichsam in eine lediglich beobachtende Rolle habe zurückziehen und die Nachbesprechung der erlebten Unterrichtseinheit den übrigen Referendaren habe überlassen können, seien die Informationen in einer Einzelhospitation auf sie zu rasch zugeströmt, so dass sie die Unterrichtseinheit nicht anhand der zu beachtenden Kriterien habe bewerten und mit dem Referendar nachbesprechen können. Wegen dieser anschaulichen und lebensnahen Schilderung ist der Senat von der Richtigkeit der Angaben der Klägerin überzeugt.

 

b)Der Senat ist gemäß § 286 ZPO auch davon überzeugt, dass die Klägerin diese von ihr bis zum Frühjahr 2016 ausgeübte Tätigkeit zu mindestens 50 % nicht mehr ausüben kann, weil sie an einem Chronischen Fatigue Syndrom leidet und sie wegen der damit verbundenen Beeinträchtigungen weder Grundschüler unterrichten, noch Landamtsanwärter ausbilden oder prüfen kann. Auf die konkreten Einzelheiten der Tätigkeitsbereiche und auf deren anteilige Gewichtung kommt es wegen des Ausmaßes der Beeinträchtigungen, unter denen die Klägerin seit vielen Jahren leidet, nicht an.

Dies gilt zunächst einmal für die Zeit ab der Untersuchung durch den Gerichtssachverständigen I..

 

aa)Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat wegen dieses Bestehens der Berufsunfähigkeit zunächst auf die zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung. Das Landgericht hat - entgegen der Rüge der Berufung der Beklagten - das Gutachten und die mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen zur derzeitigen Berufsunfähigkeit eingehend gewürdigt.

Der Sachverständige I., Facharzt für Neurologie an der U.-Klinik A., hat in seinem Gutachten vom 20.05.2022 (eGA-I 730 ff.) gestützt auf die Untersuchung vom 20.04.2022 und die am selben Tag durchgeführte (aber abgebrochene, dazu sogleich) neuropsychologische Zusatzuntersuchung bei der Klägerin ein Chronisches Fatigue Syndrom (eGA-I 742), möglichweise ausgelöst durch eine Borreliose (eGA-I 743 f.), diagnostiziert.

Diese Ergebnisse hat der Sachverständige auf die Angaben der Klägerin zu ihrer gesundheitlichen Entwicklung und die durchgeführte neuropsychologische Untersuchung gestützt. Die testpsychologische Untersuchung hat erhebliche kognitive Beeinträchtigungen gezeigt. Insbesondere hat der Sachverständige beschrieben, dass ein Merkfähigkeitstest VLMT (eGA-I 740 unten) gerade bei einer zeitlichen Verzögerung erhebliche Auffälligkeiten zeigte. Das bedeutet, dass das Kurzzeitgedächtnis erheblich beeinträchtigt ist. Auch die visuellräumliche Merkspanne und das Arbeitsgedächtnis insgesamt zeigten sich erheblich eingeschränkt (eGA-I 741). Die kognitiven Beeinträchtigungen seien ausgeprägter gewesen, als sie noch bei der testpsychologischen Zusatzbegutachtung im Jahr 2018 (B., Ergänzung zum Gutachten H.) zutage getreten seien (eGA-I 743). Der Sachverständige hat eine weitergehende Diagnostik auf Borreliose empfohlen, aber sogleich darauf hingewiesen, dass unabhängig von den Ursachen das chronische Fatigue Syndrom bei der Klägerin "stark ausgeprägt" sei und sie ihrem Beruf als Grundschullehrerin nicht mehr nachkommen könne (eGA-I 744).

 

bb)In der mündlichen Erläuterung des Gutachtens vor dem Senat hat der Sachverständige, an dessen Fachkunde und Erfahrung der Senat keinerlei Zweifel hat, das noch einmal eindrücklich und überzeugend verdeutlicht. Wegen der Störung des Kurzeitgedächtnisses, der reduzierten Aufmerksamkeit, der Probleme bei der Strategiebildung und der erhöhten Erschöpfbarkeit könne die Klägerin nicht einmal eine einzige vollständige Schulstunde durchhalten.

Der Senat ist von der Richtigkeit dieser Beurteilung mit der für das praktische Leben brauchbaren Gewissheit, welche vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, überzeugt.

Der Sachverständige ist dabei auch von dem richtigen Berufsbild konkret der Klägerin ausgegangen. Die vom Sachverständigen - gegenüber dem Senat erneut - beschriebenen kognitiven Beeinträchtigungen lassen einen Unterricht, der diese Bezeichnung verdient, durch die Klägerin in keiner Weise zu, und zwar weder in einer Grundschule noch in einem Seminar für Lehramtsanwärter. Die Klägerin hat sehr plastisch beschrieben, dass sie im Unterricht vor einer Schulklasse wegen der krankheitsbedingten Beeinträchtigungen nicht mehr die Klasse insgesamt habe im Blick halten, sondern sich nur auf eine kleine Gruppe von wenigen Schülern habe konzentrieren können. Dass es aber für eine Tätigkeit als Grundschullehrerin unverzichtbar ist, auch während eines engeren Austausches mit einem Kind oder einer kleinen Gruppe von Kindern zumindest auch mitzubekommen, was die übrigen Kinder der Klasse gerade machen, um dort eingreifen zu können, liegt auf der Hand. Darauf hat der Sachverständige zu Recht abgestellt.

Der Sachverständige hat auch überzeugend bestätigt, dass nicht etwa wegen - vielleicht - möglicher Pausen nach einer Schulstunde Berufsunfähigkeit zu verneinen sei. Schon eine Schulstunde zu unterrichten ist ihr nicht möglich.

Dass die Klägerin im Ausnahmefall einmal - wie in der mündlichen Verhandlung vor Gericht - in der Lage ist, auch mehr als 45 Minuten aufmerksam zu sein und zu reagieren, steht der Beurteilung, wie der Sachverständige, erläutert hat, nicht entgegen. Er hat anschaulich erklärt, dass das Gehirn der Klägerin dies nicht "ungestraft" zulasse.

Im Übrigen wäre es, wie der Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, der Klägerin medizinisch nicht zumutbar, auch nur annähernd 50 % ihrer Tätigkeit in gesunden Tagen auszuüben, da erhebliche Gesundheitsgefahren konkret zu besorgen sind (Seite 3 des Senatsprotokolls). Auch schon deshalb wäre Berufsunfähigkeit zu bejahen.

Schließlich wäre zu berücksichtigen, dass bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit selbst dann nicht zu verneinen wäre, wenn - was nicht der Fall ist - Vorbereitungstätigkeiten mehr als 50 % ihrer Tätigkeit in gesunden Tagen ausmachen würden und die Klägerin in der Lage wäre, solche Vorbereitungstätigkeiten zu erbringen. Denn nicht nur prägend, sondern für das Arbeitsergebnis wesentlich sind Unterricht, Interaktion und Prüfung.

 

cc)Gegen diese Feststellung einer bestehenden bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % wendet sich die Berufungsbegründung hiernach ohne Erfolg. Im Einzelnen ist dazu noch zu ergänzen:

Das Landgericht hat sich nicht etwa darauf beschränkt, nur das Gutachten wiederzugeben, sondern, wie schon gesagt, jedenfalls Berufsunfähigkeit ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch den Gerichtssachverständigen überzeugend begründet. Schon gar nicht hat es, - wie es in der Berufungsbegründung heißt (dort Seite 4) - sich die Ausführungen des Gutachters lediglich "sklavisch" zu eigen gemacht und sich beschränkt auf "Worthülsen und Aneinanderreihung von Schlagworten, ohne diese jedoch im Einzelnen zu begründen". Das Gericht hat im Einzelnen ausgeführt, warum es von der Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen überzeugt ist.

Die vom Sachverständigen I. gestellte Diagnose und die daraus abgeleitete bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit decken sich im Übrigen, wie erwähnt, insbesondere mit den Ergebnissen der von der Beklagten selbst veranlassten Begutachtung L. vom 03.08.2020 (eGA-I 280 ff.). Sie decken sich im Übrigen aber auch mit dem von der Klägerin vorgelegten Bericht von Frau Q. (N. G.) vom 26.10.2017 (eGA-I 348) sowie den amtsärztlichen Gutachten vom 17.10.2017 (eGA-I 170) und vom 18.10.2021 (eGA-I 665). Soweit die Berufung in diesem Zusammenhang rügt, der Sachverständige I. und das Landgericht erläuterten die Übereinstimmungen nicht nachvollziehbar (eGA-II 250f.), ist dies für den Senat unverständlich. Wenn mehrere Gutachten unterschiedlicher Fachrichtungen mit ähnlichen Begründungen zum übereinstimmenden Ergebnis gelangen, ist ein Verweis auf die Übereinstimmungen geeignet und auch ausreichend, um die gerichtliche Überzeugung zusätzlich zu stützen.

In tatsächlicher Hinsicht unzutreffend rügt die Berufung der Beklagten, dass der Sachverständige "in der persönlichen Untersuchung keine Beeinträchtigungen" erkannt habe, sondern "seine Beurteilung ausschließlich auf die durchgeführten Testungen" gestützt habe. Zum einen hat der Sachverständige sich die Beeinträchtigungen von der Klägerin schildern lassen und diese - gerade weil persönliche Schilderungen mitunter unzuverlässig sein können - mit den Ergebnissen der testpsychologischen Untersuchungen abgeglichen und dadurch objektiviert. Zum anderen hat der Sachverständige - was zur Erhebung des klinischen Bildes gehört - erkannt, dass die Klägerin im Laufe der testpsychologischen Untersuchungen einen so gravierenden Leistungsabfall zeigte, dass die Testung abgebrochen werden musste (eGA-I 741 unten). Dies hat der Sachverständige vor dem Senat noch einmal dahin präzisiert, dass Tests zum figuralen Gedächtnis und zur Planungs- und Strategieleistung nicht mehr durchgeführt wurden (eGA-II 333). Daraus ergibt sich ein stimmiges Bild aus anamnestischen Angaben, testpsychologisch erhobenen Befunden und Ergebnissen der klinischen Beobachtung.

Damit ist auch das Argument der Berufungsbegründung der Beklagten ausgeräumt, der Sachverständige dürfe sich nicht auf die Ergebnisse seiner (testpsychologischen) Untersuchungen verlassen, weil die vom Probanden ausgefüllten Skalen nicht objektive Werte, sondern Anspruchswünsche der Probanden zeigten. Bei den verwendeten Skalen handelt es sich nach den Ausführungen des Sachverständigen, an deren Richtigkeit der Senat keinen Zweifel hat, um valide und international anerkannte Methoden. Der Sachverständige hat sich auch gerade nicht nur auf die testpsychologischen Erhebungen gestützt, was ebenso falsch wäre wie eine Herleitung allein aufgrund der Schilderungen des Probanden ohne Versuche, diese zu objektivieren. Der Sachverständige hat - wie dargelegt - die Angaben der Klägerin mit deren testpsychologisch erhobenem Befund abgeglichen und zusätzlich noch Aspekte der klinischen Beobachtung (tatsächlicher Leistungsabfall bei der Beantwortung der Testfragen) berücksichtigt.

Deshalb ist es auch schlicht unrichtig, dem Gutachter einen Widerspruch vorzuwerfen, er habe einerseits ein unauffälliges Verhalten der Klägerin beobachtet, andererseits aber erhebliche Beeinträchtigungen in kognitiver Hinsicht aufgrund der Ergebnisse der Testung festgestellt. Im Übrigen haben die Klägerin und der Sachverständige I. im Senatstermin überzeugend geschildert, wie die Krankheit und der - vordergründig und vorübergehend - mitunter entstehende Eindruck einer uneingeschränkten Leistungsfähigkeit der Klägerin miteinander vereinbar sind. So hat die Klägerin berichtet, dass sie sich in anspruchsvollen Situationen wie einer Begutachtung oder eines Gerichtstermins vorher besonders schont, während der Situation extrem konzentriert und damit (über-)anstrengt und anschließend über das normale Maß hinaus erschöpft ist. Dies hat der Sachverständige I. bestätigt und hierzu ausgeführt, dass das Krankheitsbild der Klägerin kurzzeitig eine höhere Leistungsfähigkeit ermögliche, was das Gehirn aber nicht ungestraft zulasse. Anders als Patienten mit Tumorerkrankungen oder Multipler Sklerose, die bei vergleichbaren Beeinträchtigungen der Hirnleistungsfunktion auch für einen Laien nach vergleichsweise kurzem Kontakt sichtbare Defizite offenbaren, zeigen Patienten mit einem Chronischen Fatigue Syndrom wie die Klägerin solche Erscheinungen nicht ohne weiteres zeitnah (eGA-II 331).

Im Streitfall ist zu alledem noch zu beachten, dass nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen I., aber auch nach den Vorgutachten, kein Anhalt für Aggravation besteht (dazu noch unten im Zusammenhang mit der Feststellung zum Beginn der Berufsunfähigkeit).

Insgesamt ist die Klägerin daher wegen ihrer Beeinträchtigungen bedingungsgemäß berufsunfähig. Sie kann weder als Grundschullehrerin noch als Ausbildungsperson für Lehramtsanwärter in nennenswertem Umfang arbeiten. Gerade weil ihr Kurzzeitgedächtnis erheblich eingeschränkt ist, kann sie auf Fragen der Schüler bzw. der Referendare nicht adäquat eingehen. Deren im Unterricht gezeigte Leistungen kann sie auch nicht verlässlich bewerten, weil die erhebliche Gefahr besteht, dass sie zumindest Teile der gezeigten Mitarbeit während der Unterrichtseinheiten in der Schule und im Lehrerseminar nach kurzer Zeit wieder vergisst. Und wegen ihrer Beeinträchtigungen bedarf es ganz besonderer Anstrengungen, die Defizite zu kompensieren, was bei der gesteigerten Erschöpfbarkeit dazu führt, dass sie die Unterrichtstätigkeit nicht über den erforderlichen Zeitraum durchhalten kann.

Soweit die Berufung der Beklagten schließlich rügt, die Klägerin sei nicht bedingungsgemäß berufsunfähig, wenn es eine Therapiemöglichkeit gebe und sie diese nicht nutze, findet dies im vereinbarten Bedingungswerk keine Stütze. (Auf eine Prognose kommt es nicht an; vgl. dazu auch sogleich c, dort am Anfang.) Eine Behandlungsobliegenheit besteht nicht. Und Hinweise darauf, dass die Klägerin sich naheliegender, allenfalls gering belastender Behandlungen treuwidrig verweigert, um Versicherungsleistungen zu fordern, bestehen nicht.

Mit ihrem Angriff gegen die Feststellung von Berufsunfähigkeit - zunächst einmal - für die Zeit ab der Untersuchung durch den Gerichtssachverständigen vermag die Berufung also keinen Erfolg zu haben. Es ist nicht das Urteil des Landgerichts zu diesem Teil des Klagebegehrens, das einer tragfähigen Grundlage entbehrt, sondern dieser Berufungsangriff. Es ist, dies sei hier durchaus angemerkt, nachvollziehbar, dass die Klägerin insoweit aus ihrer Sicht Unverständnis für das Verhalten ihres Vertragspartners geäußert hat. Sie hat sich, soweit ersichtlich, und zwar - soweit ersichtlich - auch nach Auffassung der Beklagten, in jeder Hinsicht vertragstreu verhalten; falsche oder zögerliche Angaben, irgendwelche Obliegenheitsverletzungen werden ihr nicht vorgehalten; die Begutachtung durch den von der Beklagten beauftragten "Hauptgutachter" ergab immerhin eine erhebliche Beeinträchtigung der Berufsfähigkeit; die gesamte Begutachtung, auch die durch den Versicherer, brachte keinerlei Anhalt für einen Aggravationsverdacht (sondern deutete umgekehrt auf Dissimulation); der vom Versicherer bestellte Zusatzgutachter bejahte Berufsunfähigkeit; der Gerichtssachverständige tat dies ebenfalls. Gleichwohl besteht die Stellungnahme der Beklagten im Kern darin, die für Berufsunfähigkeit sprechenden Umstände in Abrede zu stellen und auf das Beweismaß des § 286 ZPO zu verweisen. Es ist in diesem Rechtsstreit - darauf sei die Anmerkung des Senats ausdrücklich beschränkt - nachvollziehbar, wenn die Klägerin sich fragt, ob das Vertragsverständnis der Beklagten nach dem Leistungsantrag hier noch dasselbe ist wie dasjenige, welches die Beklagte und ihre Vermittler bei Vertragsabschluss an die Versicherungsnehmer herantragen.

 

c)Die Klägerin war auch bereits im Mai 2016 nicht mehr in der Lage, ihren Beruf zu mindestens 50 % auszuüben, und dieser Zustand dauerte dann über mehr als sechs Monate an. Die Beklagte hat mit ihren Bedingungen für diesen Fall versprochen, rückwirkend ab Beginn des 6-Monats-Zeitraums zu leisten. Damit ist die Klägerin seit Mai 2016 bedingungsgemäß berufsunfähig.

Der Senat ist mit der nach § 286 ZPO notwendigen Gewissheit davon überzeugt, dass die vorstehend beschriebenen Beeinträchtigungen aufgrund der Krankheit die Klägerin spätestens ab Mai 2016 und seither fortdauernd hinderten, ihren zuletzt ausgeübten Beruf zu mindestens 50 % auszuüben.

Allerdings ist der Beklagten - insoweit - einzuräumen, dass hinsichtlich des Eintritts der Berufsunfähigkeit bereits im Mai 2016 zunächst Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der landgerichtlichen Feststellungen angenommen werden konnten, da der Sachverständige I. konjunktivisch formuliert ("dürfte") und auf geringere kognitive Beeinträchtigungen während der psychologischen Untersuchung durch B. im November 2018 verwiesen hat. Indes sind vernünftige Zweifel durch die erneute Erläuterung des Gutachtens im Senatstermin ausgeräumt worden.

Eine Überzeugungsbildung im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO setzt nicht etwa mathematisch zwingende, vollständige Gewissheit voraus. Es genügt der für das praktische Leben brauchbare Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (ständige Rechtsprechung, etwa BGH, Urteil vom 01.10.2019, VI ZR 164/18 , VersR 2020, 784 ff., Rn. 8).

Dieses Maß an Gewissheit ist für den Senat durch die Angaben der Klägerin, die vorgelegten Behandlungsunterlagen und die Erläuterungen des Sachverständigen I. erreicht.

Die Klägerin hat nach fachlicher Einschätzung des Sachverständigen und auch nach der Würdigung des Senats glaubhaft von einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes um den Jahreswechsel 2015/2016 berichtet und ebenso - nach ärztlicher Erfahrung für den Sachverständigen und nach Würdigung durch den Senat glaubhaft - geschildert, wie sich ihr Zustand in der Nacht zum 28.04.2016 mit massiven Kopfschmerzen, Herzrasen und Tinitus krisenhaft zugespitzt habe. Gerade eine Tachykardie und erhebliche Kopfschmerzen hat der Sachverständige als mögliche Folgen beschrieben, die eintreten, wenn ein am chronischen Fatigue Syndrom leidender Patient erheblich und wiederholt über seine Grenzen hinausgeht (eGA-II 332). Dies, die in den von der Klägerin vorgelegten Behandlungsunterlagen dokumentierten häufigen Infekte schon vor April 2016 und die von der Klägerin geschilderten Schwierigkeiten, vor ihrer Krankschreibung ihren Beruf auszuüben, überzeugen den Senat aufgrund der hiesigen Erläuterungen des Sachverständigen davon, dass die Klägerin spätestens nach dem Notarzteinsatz in der Nacht auf den 28.04.2016 nicht mehr zu mindestens 50 % ihren Beruf ausüben konnte.

Die Schilderungen der Klägerin zu ihrer langen Krankheitsgeschichte und insbesondere die plastische Beschreibung ihres Zustandes, der sie veranlasste, nachts einen Rettungswagen zu rufen, sind nach den Ausführungen des Sachverständigen aus ärztlicher Sicht gut vereinbar mit einem sich über Jahre entwickelnden Krankheitsverlauf. Unter der Berücksichtigung, dass die Klägerin nach allen zwischenzeitlich eingeholten Gutachten keinerlei Tendenzen der Aggravation oder der Simulation zeigt, sondern im Gegenteil dazu neigt, an sich selbst sehr hohe Anforderungen zu stellen und sich damit auch zu überfordern, bildet der nächtliche Notarzteinsatz eine Zäsur, die zusammen mit der seither ununterbrochen ärztlich bestätigten Arbeitsunfähigkeit zur der Gewissheit des Senats führt, dass die Klägerin ihren Beruf seither nicht mehr zu mindestens 50 % ausüben konnte. Der Sachverständige I. hat insoweit überzeugend von einer "richtungsweisenden Verschlechterung" im April 2016 gesprochen (eGA-II 333).

Der gescheiterte Wiedereingliederungsversuch vor den Sommerschulferien 2017 bestätigt - freilich für sich vorgenommen nur für diesen Zeitpunkt - die Einschätzung des Sachverständigen.

Soweit der Sachverständige im Laufe seiner Erläuterungen vor dem Senat im Hinblick auf die retrospektive Bewertung der Berufsunfähigkeit zunächst erklärt hat, keine wissenschaftliche Sicherheit berichten zu können, sondern seine Überzeugung ("keine Zweifel", eGA-II 333) als "wissenschaftlich weich" bezeichnet hat, steht dies der richterlichen Überzeugungsbildung nicht entgegen. Denn die richterliche Überzeugungsbildung verlangt gerade keine Sicherheit im Sinne einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Und auch wenn aus fachärztlicher Sicht eine wissenschaftliche fundierte Überzeugung regelmäßig eine Objektivierung in den dafür entwickelten Testskalen erfordert, schließt dies nicht aus, dass andere Informationen aus ärztlicher Sicht die von einem Patienten für die Vergangenheit beklagten Beeinträchtigungen belegen und so zu einer richterlichen Überzeugung für ein Mindestmaß der Beeinträchtigung in der Vergangenheit führen können. So ist es hier. Der Sachverständige hat bekräftigt, dass er nach seiner fachlichen Erfahrung und Einschätzung letztlich keine Zweifel an einer Berufsunfähigkeit der Klägerin ab Mai 2016 habe. Dieses Subsumtionsergebnis Berufsunfähigkeit zu treffen, ist freilich Sache des Gerichts. Der Senat ist aber eben, sachverständig beraten und im Einklang mit der sachverständigen Einschätzung, aus den vorstehenden Gründen ohne vernünftige Zweifel überzeugt, dass ab Mai 2016 Berufsunfähigkeit bestand.

Die Beklagte sei dazu im Übrigen nochmals darauf hingewiesen, dass es für Berufsunfähigkeit genügt, wenn die Tätigkeit medizinisch nicht zumutbar ist.

Würde man, wie es der Prozessbevollmächtigte der Beklagten vor dem Senat jedenfalls andeutungsweise gefordert hat, stets gleichsam gemessene, präzis bestimmte, unumstößlich gesicherte Befunde fordern, wäre im Falle von Erkrankungen, die nicht etwa auf plötzliche Ereignisse zurückzuführen sind und nicht mit sofort eintretenden, erkennbaren Beeinträchtigungen einhergehen, die Feststellung einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit für die Vergangenheit in vielen Fällen praktisch nicht möglich, weil die Begutachtungen und die damit einhergehenden testpsychologischen Untersuchungen zur Validierung regelmäßig erst geraume Zeit nach dem vom Versicherungsnehmer geltend gemachten Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit stattfinden. Eine solche Betrachtungsweise verlangt § 286 ZPO nicht. Und im Übrigen, dies sei wiederum lediglich angemerkt, würde eine solche Betrachtungsweise den von der Beklagten versprochenen Versicherungsschutz, wie ihn der durchschnittliche Versicherungsnehmer verstehen darf, teilweise entwerten.

Daraus, dass die Untersuchung durch B. im November 2018 im Vergleich zur Untersuchung, die der Sachverständige I. hat durchführen lassen, geringere kognitive Beeinträchtigungen abgebildet hat, ergeben sich keine durchgreifenden Zweifel an der schon damals bestehenden Berufsunfähigkeit. Solche ergeben sich auch nicht daraus, dass der von der Beklagten beauftragte Gutachter H., gestützt auf die testpsychologische Zusatzbegutachtung Z., keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit angenommen hat. Denn der Sachverständige I. hat einleuchtend und überzeugend ausgeführt, dass die Gutachterin Z. seinerzeit im Gegensatz zu ihm keine Fatigue-Skala erhoben hat (eGA-II 334). Dies allein erklärt bereits, warum es aus Sicht des Gutachters H. an einer Objektivierung der von der Klägerin beklagten Beeinträchtigungen fehlte (eGA-I 248 f.). Zudem hatte H. ein Zusatzgutachten empfohlen und der daraufhin von der Beklagten selbst beauftragte Gutachter L. bejahte Berufsunfähigkeit. Unabhängig davon gilt im Übrigen ohnehin, dass der Sachverständige I. - wie dargestellt - eine umfassendere Beurteilung vorgenommen hat. Ferner wäre auch in diesem Zusammenhang wiederum zu beachten, dass, wie es I. vor dem Senat getan hat, zusätzlich nach der medizinischen Zumutbarkeit der Tätigkeit zu fragen ist, bevor Berufsunfähigkeit verneint wird.

 

d)Der nicht nachgelassene Schriftsatz der Beklagten vom 11.09.2023 gibt keine Veranlassung, erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.

Aus den genannten Gründen besteht insbesondere kein Anlass, ein neues Gutachten einzuholen.

Was die Beklagte mit der Vorlage zweier Fragebögen (Anlagen B13 und B14 zu dem Schriftsatz) nach Schluss der mündlichen Verhandlung und abschließender Erörterung des Ergebnisses der Beweisaufnahme vortragen möchte, erschließt sich dem Senat nicht. Insbesondere bei dem Anmeldebogen der N. (Anlage B14) handelt es sich erkennbar um erste Informationen, die die Klinik im Zusammenhang mit der Anmeldung zur ersten Konsultation abfragt. Dieser Fragebogen hat mit den Fragebögen, die ein Patient im Zusammenhang mit den vom Sachverständigen erläuterten psychologischen Testverfahren nichts zu tun. Dass die "Kanadischen Kriterien" (Anlage B13) im Rahmen der Begutachtung durch I. zum Einsatz gekommen sind, deutet die Beklagte nicht einmal an. Solches ergibt sich im Übrigen auch nicht aus dem Gutachten: In dem dortigen Bericht über die Neuropsychologische Untersuchung vom 20.04.2022 (eGA-I 740 f.) werden die "Kanadischen Kriterien" nicht erwähnt.

Und wie ein - aus sich heraus nur schwer verständliches- Ergänzungsgutachten aus einem anderen Rechtsstreit, in dem es erkennbar um ganz andere Befunde, Testergebnisse, Selbstauskünfte etc. geht, das im Termin erörterte Ergebnis der Beweisaufnahme erschüttern soll, kann der Senat nicht nachvollziehen. Auch der Prozessbevollmächtige der Beklagten erläutert dies nicht näher. Sollte die Beklagte unter Umständen darauf abstellen wollen, dass in dem - nicht näher erläuterten - Verfahren vor dem Landgericht Aachen im Rahmen der Begutachtung auf "Fragebögen zur Selbsteinschätzung" verzichtet wurde (S. 9 der Anlage B15, eGA-II 374 unten), ist auch dies jedenfalls nicht geeignet, das fortwährende Bestreiten der Berufsunfähigkeit im hiesigen Rechtsstreit zu untermauern. Denn im hiesigen Streitfall hat der Sachverständige I. kognitive Leistungsminderungen aufgezeigt, die im Übrigen schon Frau Z. im Rahmen der von der Beklagten veranlassten Begutachtung feststellen konnte, wenn auch in geringerem Ausmaß.

Ebenso scheint die Beklagte auf Seite 2 (6. Absatz) ihres nicht nachgelassenen Schriftsatzes nunmehr völlig auszublenden, dass bereits 2020 der von ihr beauftragte Gutachter L. eine Berufsunfähigkeit festgestellt hat.

 

e)Die Klägerin kann daher - wie beantragt - die bedingungsgemäßen Leistungen seit Juni 2016, dem auf den Eintritt bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit folgenden Monat, verlangen.

 

aa)Die monatliche Rente beträgt 2.527,14 €. Bis zum Eintritt des Verzuges im September 2020 - dazu sogleich unter dd) - waren die Renten von Juni 2016 bis einschließlich September 2020 in Höhe von insgesamt 131.411,28 € (=52 x 2.527,14 €) aufgelaufen.

Die ab Verzugseintritt fällig gewordenen und die künftig fällig werdenden monatlichen Renten sind antragsgemäß mit 2.527,14 € zuzusprechen, längstens jedoch bis zum Ende der Versicherung am 01.12.2027.

 

bb)Wegen des Eintritts der Berufsunfähigkeit im Mai 2016 war die Klägerin ab Juni 2016 gemäß Nrn. I.1.1 a), 1.2 der AVB von der Pflicht zur Beitragszahlung befreit. Die seither bis einschließlich Dezember 2020 gezahlten Beiträge in Höhe von insgesamt 7.460,82 € (=18 x 128,28 € + 12 x 134,69 € + 25 x 141,42 €) leistete die Klägerin ohne Rechtsgrund. Sie kann sie gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 BGB zurückverlangen.

Die Beitragsfreiheit bei fortbestehender Berufsunfähigkeit ist antragsgemäß festzustellen. Eine Freistellung von ihrer Beitragspflicht, wie sie die Klägerin beantragt hat, ist hingegen nicht zuzusprechen. Auch wenn in Nr. I.1.1 a) der AVB von einer "Befreiung von der Beitragspflicht" die Rede ist, kann die Klägerin keine "Freistellung" verlangen. Dies meint gemäß § 257 BGB die Befreiung von einer Verbindlichkeit eines Dritten. Hier bestand die Beitragspflicht der Klägerin aber nicht gegenüber einem Dritten, sondern gegenüber der Beklagten.

 

cc)Die Klägerin ist gemäß Nr. II.3 der AVB an den Überschussanteilen zu beteiligen und hat einen Anspruch auf Zahlung der jährlichen Überschussanteile als Rentenzuwachs mit der Rente. Dies ist auf ihren Antrag festzustellen.

 

dd)Zinsen kann die Klägerin unter dem Gesichtspunkt des Verzuges ab dem 09.09.2020 auf die bis dahin aufgelaufenen rückständigen Renten verlangen. Für die seither bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat fällig gewordenen Renten setzt die Verzinsung erst mit der Fälligkeit der einzelnen Rente ein. Beantragt und zuzusprechen ist eine Verzinsung ab dem 4. Werktag eines Monats.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts kann eine fingierte Fälligkeit wegen verzögerter Bearbeitung durch die Beklagte nicht bereits zum 01.01.2019 angenommen werden mit der Folge, dass wegen der kalendermäßigen Bestimmtheit des Zeitpunktes für die Leistung der Renten Verzug mit deren Fälligkeit eingetreten wäre. Denn die Beklagte hat zunächst einmal bis zur Erstattung der ergänzenden Stellungnahme durch den Gutachter H. die Entscheidung über ihre Leistungspflicht nicht schuldhaft verzögert. Im Anschluss an den Leistungsantrag hat die Beklagte ergänzende Unterlagen bei der Klägerin angefordert und sodann zeitnah eine neurologischpsychiatrische Begutachtung veranlasst. Es kann der Beklagten nicht angelastet werden, dass mit H. erst der dritte in Aussicht genommene Gutachter die Untersuchung zeitnah vornehmen konnte. Nachdem die Untersuchung der Klägerin am dritten vom Gutachter in Aussicht genommenen Termin im November 2018 durchgeführt werden konnte, hat der Gutachter sein Gutachten zeitnah vorgelegt. Es gereicht der Beklagten sodann auch nicht zum Vorwurf, wenn sie nach Vorlage weiterer Unterlagen durch die Klägerin und nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme durch H. das von ihm angeregte internistische Gutachten erst im Juli 2019 beim Sachverständigen L. in Auftrag gab. Dessen Untersuchung im November 2019 erfolgte zwar vergleichsweise spät. Angesichts der Komplexität der Angelegenheit und wegen der auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten, qualifizierte Gutachter für zeitnahe Begutachtungen zu finden, ist eine schuldhafte Verzögerung der Entscheidung auch bis zum Jahreswechsel 2019/2020 nicht gegeben. Dass anschließend wegen der Beeinträchtigungen durch die Corona-Pandemie ab Februar/März 2020 vom Sachverständigen keine zeitnahe Förderung der Begutachtung erwartet werden konnte, liegt auf der Hand.

Im Anschluss an die Erstattung des Gutachtens vom 03.08.2020 hat die Beklagte aber nicht nachvollziehbar dargelegt, warum ihr eine zeitnahe Entscheidung nach Prüfung des Gutachtens nicht möglich war. Insbesondere hat die Beklagte nicht erläutert, warum die von ihr mit Schreiben vom 28.08.2020 und vom 18.09.2020 formulierten Rückfragen angesichts der deutlichen gutachterlichen Ausführungen zur angenommenen Berufsunfähigkeit einer Entscheidung über die Leistungspflicht entgegenstanden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 24.08.2020 (eGA-I 369) auf das bereits eingegangene Gutachten verwies und für die Entscheidung eine - angesichts der bisher schon verstrichenen Zeit und der überaus klaren Aussage des Gutachtens L. angemessene - Frist von 14 Tagen setzte. Mit dem Zugang des Fax-Schreibens am selben Tag begann die Frist gemäß § 187 Abs. 1 BGB am Dienstag, dem 25.08.2020, zu laufen. Die gesetzte Frist von 14 Tagen daher am 08.09.2020 ab, so dass sich die Beklagte seit dem 09.09.2020 in Verzug befindet.

Für künftig, nach der mündlichen Verhandlung vor dem Senat fällig werdende Renten sind Zinsen hingegen nicht zuzusprechen. § 258 ZPO lässt zwar bei wiederkehrenden Leistungen eine Klageerhebung auch wegen solcher Leistungen zu, die erst nach Erlass des Urteils fällig werden. Wiederkehrend im Sinne des § 258 ZPO sind Ansprüche, die sich als einheitliche Folgen aus einem Rechtsverhältnis ergeben, so dass die einzelne Leistung in ihrer Entstehung nur noch vom Zeitablauf abhängig ist (BGH, Urteil vom 19.11.2014, VIII ZR 79/14, NJW 2015, 873 ff., Rn. 33). Das ist bei den beanspruchten Zinsen auf die künftig fällig werdenden Renten nicht der Fall. Denn der Anspruch auf Zinsen setzt neben der Fälligkeit der Rente auch die Nichtzahlung des Schuldners voraus.

Die Rückzahlung der bis einschließlich Dezember 2020 trotz eingetretener Berufsunfähigkeit geleisteten Beiträge hat die Klägerin nicht angemahnt. Insoweit ist der Anspruch erst ab Rechtshängigkeit gemäß § 291 BGB zu verzinsen.

ee)Mangels Verzuges im Zeitpunkt der Mandatierung im Mai 2019 kann die Klägerin auch keine Erstattung der vorgerichtlich aufgewendeten Rechtsanwaltskosten verlangen.

 

2.Die Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Aus den genannten Gründen steht ihr ein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten mangels Verzuges im Zeitpunkt der Mandatierung im Mai 2019 schon dem Grunde nach nicht zu. Auf die Höhe der Rahmengebühr kommt es daher nicht an.

 

 

Chronische Fatigue-Syndrom (CFS):

Das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine komplexe und oft schwer zu verstehende Erkrankung. Es zeichnet sich durch anhaltende, überwältigende Müdigkeit aus, die nicht durch Ruhe gelindert wird. Betroffene erleben oft kognitive Beeinträchtigungen, Schlafstörungen und Muskelschmerzen. Die genaue Ursache ist unbekannt, was die Diagnose erschwert. CFS kann das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen und ist oft von anderen Symptomen wie Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und einem allgemeinen Gefühl der Erschöpfung begleitet. Die langanhaltende Natur der Erkrankung macht sie herausfordernd, und es gibt noch viele Fragen bezüglich ihrer Entstehung und optimalen Behandlung.