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BGH: Berufsunfähigkeit und Raubbau an der Gesundheit

Mit vom Beschluss vom 13.12.2023 (Az.: IV ZR 125/23) hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nicht nur dann anzunehmen ist, wenn der Versicherungsnehmer infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls nicht mehr zur Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit imstande ist. Vielmehr liegt sie auch vor, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Letzteres kann etwa dann der Fall sein, wenn sich die fortgesetzte Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers angesichts einer drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als Raubbau an der Gesundheit und deshalb überobligationsmäßig erweist.

Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Der Kläger macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung geltend. Er unterhält seit 2006 bei der Beklagten eine Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung.

 

Nach § 1 Abs. 1 der dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ 2004) verspricht die Beklagte bei einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50% die Zahlung einer monatlichen Rente und die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht. § 2 BUZ 2004 lautet auszugsweise:

 

(1) Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht … .

 

(2) Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die in Absatz 1 genannten Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad erfüllt sind.

 

(3) Ist die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, vollständig oder teilweise außerstande gewesen, ihren vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht …, so gilt dieser Zustand von Beginn an als vollständige oder teilweise Berufsunfähigkeit.

 

Der Kläger ist gelernter Anlagenmechaniker. Er arbeitete seit 2008 als Schweißer. Seine Anstellung wurde zu Ende April 2015 betriebsbedingt gekündigt. Seit dem 24. Juli 2017 ist der Kläger als Facharbeiter in der Anlagenbedienung tätig.

 

Im Februar 2016 machte der Kläger Versicherungsleistungen wegen Erkrankungen seiner Augen geltend. Er hat behauptet, zumindest seit dem 1. Januar 2015 bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Im März 2019 lehnte die Beklagte ihre Einstandspflicht mangels Nachweises einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ab und verwies den Kläger hilfsweise auf seine seit dem 24. Juli 2017 ausgeübte Tätigkeit.

 

Der Kläger hat die Verweisung zunächst hingenommen und erstinstanzlich Zahlung rückständiger Rente bis Juni 2019 sowie Erstattung der in diesem Zeitraum erbrachten Beitragszahlungen begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers, mit der er seine Klage zugleich auf rückständige Rente bis Juli 2022, künftige Renten, Erstattung weiterer gezahlter Beiträge und Befreiung von zukünftigen Beitragszahlungen erweitert hat, hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.

 

Der Bundesgerichtshof hat seinen Beschluss wie folgt begründet:

 

II. Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

 

1.

Dieses hat schlüssigen Vortrag des Klägers zum Eintritt des Versicherungsfalls vermisst. Die Mindestvoraussetzungen einer fingierten Berufsunfähigkeit nach § 2 Abs. 3 BUZ 2004 seien dem Klägervortrag nicht zu entnehmen. Der Versicherte habe die konkreten Erkrankungen und Beschwerden mitzuteilen und darzulegen, warum er seine beschriebene Tätigkeit nicht mehr ausüben könne. Es müsse klar werden, wie sich die vom Arzt festgestellte gesundheitliche Beeinträchtigung auf die Fähigkeit des Versicherten auswirke, die im Beruf anfallenden Verrichtungen auszuführen. Für den Sechsmonatszeitraum vor dem 1. Januar 2015 habe der Kläger lediglich die Diagnose eines Chalazions (Hagelkorns) vorgetragen. Er habe nicht mitgeteilt, dass über dessen operative Entfernung und eine kurzfristige Krankschreibung hinaus Beeinträchtigungen seiner beruflichen Tätigkeit vorgelegen hätten. Es sei weder ersichtlich noch konkret vorgetragen, dass er aufgrund von Beschwerden Raubbau treibend gearbeitet habe. Auch für den Sechsmonatszeitraum ab dem 1. Januar 2015 habe der Kläger nicht dargelegt, wegen krankheitsbedingter Beeinträchtigungen bedingungsgemäß berufsunfähig gewesen zu sein. Er habe bis zur betriebsbedingten Kündigung Ende April 2015 gearbeitet und bezogen auf diesen Zeitraum keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen, die ihn hieran gehindert hätten. Auf die seit Januar 2016 bestehende chronische Blepharitis (Lidrandentzündung) komme es für die Berufsunfähigkeit ab dem 1. Januar 2015 nicht an.

8Berufsunfähigkeit gemäß § 2 Abs. 1 BUZ 2004 sei ebenfalls nicht schlüssig dargelegt. Dem klägerischen Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass bis zu seiner betriebsbedingten Kündigung konkrete Beschwerden vorgelegen hätten, die ihn gehindert hätten, seinen Beruf als Schweißer auszuüben, oder dass er in dieser Zeit seiner beruflichen Tätigkeit Raubbau betreibend nachgegangen sei. Die vom Kläger aufgeführten Beschwerden, beispielsweise eine chronische Bindehaut- und eine Lidrandentzündung, seien erst nach dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit aufgetreten und ärztlich festgestellt worden.

 

Eine vom Kläger begehrte körperliche Untersuchung, insbesondere im Wege einer beaufsichtigten Arbeitserprobung im Jahr 2023, sei ungeachtet des fehlenden schlüssigen Vorbringens schon deshalb unergiebig, weil auf einer solchen Grundlage eine Sechsmonats-Prognose zum 1. Januar 2015 im Hinblick auf den nach § 286 ZPO erforderlichen Beweismaßstab nicht retrospektiv gestellt werden dürfte.

 

2.

Das verletzt den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.

 

a) Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Senatsbeschluss vom 8. Februar 2023 – IV ZR 9/22, r+s 2023, 303 Rn. 10). Bei vom Gericht entgegengenommenem Vorbringen der Parteien ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass dies geschehen ist. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen liegt aber vor, wenn im Einzelfall zu erkennen ist, dass erhebliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist. So kann es sich verhalten, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer zentralen Frage des Verfahrens in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (Senatsbeschluss vom 27. März 2019 – IV ZR 10/18, NJW-RR 2019, 738 Rn. 10). Das ist hier geschehen.

 

b) Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe den Eintritt des Versicherungsfalls nicht schlüssig dargelegt, übergeht gehörsverletzend klägerisches Vorbringen. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt nicht nur dann vor, wenn der Versicherungsnehmer infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls nicht mehr zur Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit imstande ist. Sie ist auch anzunehmen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Letzteres kann der Fall sein, wenn sich die fortgesetzte Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers angesichts einer drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als Raubbau an der Gesundheit und deshalb überobligationsmäßig erweist (Senatsbeschluss vom 11. Juli 2012 – IV ZR 5/11, VersR 2012, 1547 Rn. 3; Senatsurteil vom 11. Oktober 2000 – IV ZR 208/99, VersR 2001, 89 [juris Rn. 11]).

 

Davon geht auch das Berufungsgericht aus. Zu Unrecht nimmt es aber an, der Kläger habe keine konkreten Beschwerden vorgetragen, die ihn an der Ausübung seines Berufs als Schweißer hinderten, und dem klägerischen Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass sich die fortgesetzte berufliche Tätigkeit als Raubbau an der Gesundheit erweise. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger Augenbeschwerden nicht erst für den Zeitraum nach dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit behauptet. Er hat schon in der Klagebegründung vorgetragen und unter Beweis gestellt, Ursache der bei ihm diagnostizierten Augenbeschwerden und Auslöser einer reproduzierbaren akuten Verschlechterung des Krankheitsbildes seien die bei einem Schweißvorgang anfallenden Lichtemissionen, insbesondere die entstehende ultraviolette Strahlung. Diesen Zusammenhang zwischen seiner Berufstätigkeit als Schweißer und dem „Aufbrechen“ seiner Augenkrankheiten habe er über Jahre beobachten können. Auf dieses Vorbringen hat sich der Kläger in seiner Berufungsbegründung bezogen. Die behaupteten Beschwerden hat der Kläger erstinstanzlich dahingehend konkretisiert, dass es zu einem Brennen und Tränen der Augen, Sehbeeinträchtigungen, Juckreiz und Überempfindlichkeit bei hellem Licht, schmerzenden Augen, geschwollenen Augenlidern und häufigem Austreten von Augensekret komme. Diese Beschwerden seien bei Ausübung der Schweißertätigkeit täglich aufgetreten, lediglich an Wochenenden sei aufgrund der Arbeitspause regelmäßig eine Linderung eingetreten. Sämtliche Beschwerden träten erneut auf, sobald der Kläger Schweißarbeiten durchführe. Mit diesem Vorbringen, das sich auch in den vorgelegten ärztlichen Unterlagen wiederfindet, setzt sich das Berufungsgericht nicht auseinander.

 

c) Die Gehörsverletzung des Berufungsgerichts ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens zum Vorliegen bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit gelangt wäre. Dem steht die Hilfsbegründung des Berufungsgerichts nicht entgegen, eine vom Kläger begehrte aktuelle körperliche Untersuchung, insbesondere durch eine beaufsichtigte Arbeitserprobung, sei unergiebig, weil im Hinblick auf den nach § 286 ZPO erforderlichen Beweismaßstab allein auf einer solchen Grundlage eine Sechsmonats-Prognose rückwirkend nicht gestellt werden dürfe. Damit verletzt das Berufungsgericht ebenfalls das rechtliche Gehör des Klägers, weil es den noch nicht erhobenen Beweis vorab würdigt und damit eine unzulässige Beweisantizipation vornimmt (vgl. Senatsbeschluss vom 12. September 2012 – IV ZR 177/11, ZEV 2013, 34 Rn. 14).

 

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Das Berufungsgericht erkennt zutreffend, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der vom Versicherungsnehmer behauptete Eintritt der Berufsunfähigkeit ist (Senatsbeschluss vom 20. Juni 2007 – IV ZR 3/05, VersR 2007, 1398 Rn. 6 m.w.N.). Seine Prüfung der Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit allein in Bezug auf das vom Kläger behauptete Datum 1. Januar 2015 greift aber zu kurz. Sie übergeht, dass der Vortrag des Klägers, seit dem 1. Januar 2015 bedingungsgemäß außerstande zu sein, seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Schweißer auszuüben, die Behauptung umfasst, seit Januar 2015 dauerhaft berufsunfähig zu sein. In diesem Fall kann die Ablehnung eines Leistungsanspruchs nicht allein darauf gestützt werden, die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit hätten zum 1. Januar 2015 nicht vorgelegen. Das Berufungsgericht wird demgemäß prüfen müssen, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt nach dem 1. Januar 2015 vorgelegen hat und zu diesem Zeitpunkt die weiteren Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten bestanden haben.

Vorinstanzen:

 

LG Neubrandenburg, Entscheidung vom 30.03.2022 – 3 O 668/19 –

 

OLG Rostock, Entscheidung vom 11.05.2023 – 4 U 48/22 -