BGH: Widerspruch und Verwirkung bei Lebensversicherungsverträgen

Der BGH hat mit nunmehr veröffentlichtem Urteil vom 15.02.2023 (Az.: IV ZR 353/21) entschieden, dass die Ausübung des Widerspruchsrecht bei Lebens- und Rentenversicherungsverträgen gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (hier: Schriftform statt Textform). Ob dieses Urteil vor dem EuGH Bestand haben wird, wird sich zeigen.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Die Klägerin macht Ansprüche auf Rückabwicklung fondsgebundener Lebens- beziehungsweise Rentenversicherungsverträge geltend.

 

Diese Versicherungsverträge mit den Endziffern 7540, 7539 und 8188 wurden zwischen den jeweiligen Versicherungsnehmern und der Beklagten mit Versicherungsbeginn zum 1. November 2002 (Endziffern 7540 und 7539) beziehungsweise zum 1. Dezember 2002 (Endziffern 8188) nach dem sogenannten Policenmodell des § 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden: § 5a VVG a.F.) abgeschlossen. Die Versicherungsnehmer erhielten jeweils den Versicherungsschein, die Versicherungsbedingungen nebst Verbraucherinformation sowie ein Begleitschreiben zugesandt. Das Begleitschreiben enthielt eine Belehrung, die auszugsweise lautete:

 

„Der Vertrag gilt … als abgeschlossen, wenn Sie nicht innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der genannten Unterlagen schriftlich widersprechen.

… Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs an uns.“

 

In der Folgezeit zahlten die Versicherungsnehmer jeweils die Versicherungsbeiträge.

 

Den Versicherungsvertrag mit den Endziffern 7540 kündigte die Versicherungsnehmerin mit Schreiben vom 15. April 2017 und die Beklagte zahlte ihr einen Rückkaufswert aus. Im März 2018 erklärte die Versicherungsnehmerin mit Schreiben datiert auf den 27. Dezember 2017 unter anderem den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Die Klägerin verlangt – soweit für die Revision von Belang – noch Zahlung von 6.320,95 € nebst Zinsen.

 

Den Versicherungsvertrag mit den Endziffern 7539 kündigte der Versicherungsnehmer mit Schreiben vom 15. April 2017 und die Beklagte zahlte ihm einen Rückkaufswert aus. Im März 2018 erklärte der Versicherungsnehmer mit Schreiben datiert auf den 29. Dezember 2017 unter anderem den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Die Klägerin verlangt – soweit für die Revision von Belang – noch Zahlung von 6.679,99 € nebst Zinsen.

 

Den Versicherungsvertrag mit den Endziffern 8188 kündigte der Versicherungsnehmer mit Schreiben vom 28. Dezember 2016 und die Beklagte zahlte ihm einen Rückkaufswert aus. Im Januar 2018 erklärte der Versicherungsnehmer mit Schreiben datiert auf den 27. Dezember 2017 unter anderem den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Die Klägerin verlangt – soweit für die Revision von Belang – noch Zahlung von 10.372,90 € nebst Zinsen.

 

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Kammergericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren im genannten Umfang weiter.

Der Bundesgerichtshof begründete sein Urteil wie folgt:

 

Die Revision hat keinen Erfolg.

 

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Geltendmachung des Rückabwicklungsanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Bei einer fehlerhaften Belehrung könne der Versicherer grundsätzlich keine vorrangige Schutzwürdigkeit für sich beanspruchen. Dies schließe jedoch nicht aus, eine Durchsetzung des Anspruchs wegen widersprüchlichen Verhaltens im Einzelfall zu versagen, wenn besonders gravierende Umstände vorlägen, die das Verhalten des Versicherungsnehmers als besonders treuwidrig erscheinen ließen. Ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers in den Fortbestand des Vertrags komme in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den Schluss darauf zuließen, dass der Versicherungsnehmer auch in Kenntnis seines Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätte. Dieser Schluss sei hier gerechtfertigt, weil alle drei Versicherungsnehmer jeweils trotz der im Jahr 2002 erfolgten Belehrung über ihr Widerspruchsrecht erst Ende Dezember 2017 nach vorheriger Kündigung und Abrechnung der Verträge durch die Beklagte von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht hätten. Der Fehler in der Belehrung über die Schriftform anstelle der seit dem 1. August 2001 ausreichenden Textform für die Widerspruchserklärung könne die Versicherungsnehmer nicht ernsthaft von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. geltenden Frist abgehalten haben. Denn die Ausübung der Schriftform stelle keine wesentliche Erschwernis im Vergleich zur Textform dar. Da der Versicherungsnehmer mit einer schriftlichen Erklärung, wie sie laut Belehrung notwendig erschienen sei, zum einen die gesetzlich vorgesehene Textform jedenfalls erfüllt hätte, also eine wirksame Erklärung abgegeben hätte, und zum anderen den Vorteil der leichteren Beweisbarkeit der Einhaltung des Formerfordernisses habe in Anspruch nehmen können, erscheine es im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als unverhältnismäßig, unter Hinweis auf diesen Fehler in der Belehrung die Lösungsmöglichkeit des Versicherungsnehmers zeitlich unbegrenzt zuzulassen.

 

II.

Das hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Die Versicherungsnehmer konnten den Widerspruch nicht noch im Jahr 2018 wirksam erklären. Dahinstehen kann daher, ob – wie die Beklagte zu bedenken gibt – die Berufung und die Berufungsbegründung der Klägerin formgerecht eingereicht worden sind.

 

1. a) Nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden und von der Revisionserwiderung – zu Recht – nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts enthielt die für den Beginn der Widerspruchsfrist nach § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. erforderliche Widerspruchsbelehrung zwar jeweils eine unrichtige Information über die Form der Widerspruchserklärung. Die Belehrung im Begleitschreiben wies auf ein Recht zum schriftlichen Widerspruch hin, obwohl nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 1. August 2001 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte (vgl. Senatsurteil vom 17. Juni 2015 – IV ZR 367/13, juris Rn. 12).

 

b) Weitere Mängel der Belehrung hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Soweit die Revision der Klägerin rügt, es fehle auch an einer drucktechnischen Hervorhebung der Widerspruchsbelehrung, vermag sie hiermit nicht durchzudringen. Bereits das Landgericht hatte festgestellt, dass die Versicherungsnehmer in den Anschreiben jeweils unter drucktechnischer Hervorhebung darüber belehrt worden waren, dass sie das Widerspruchsrecht innerhalb von 14 Tagen ausüben können. Diese Feststellung, der sich das Berufungsgericht durch den Verweis auf die landgerichtliche Entscheidung angeschlossen hat, hat die Klägerin in den Instanzen nicht weiter angegriffen. Die Auslegung bewegt sich innerhalb des den Tatgerichten zustehenden Spielraums und lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die in diesem Zusammenhang von der Revision erhobene Verfahrensrüge hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.

 

2. Aus der unrichtigen Information über die Form der Widerspruchserklärung ergibt sich aber kein fortbestehendes Widerspruchsrecht der Versicherungsnehmer. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass ein Bereicherungsanspruch der Klägerin jedenfalls nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts ausgeschlossen ist.

 

a) Wird dem Versicherungsnehmer durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 79). Unter diesen (engen) Voraussetzungen liegt ein geringfügiger Belehrungsfehler vor, der – anders als die Revision meint – einer Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 242 BGB entgegensteht (offengelassen unter anderem in den Senatsurteilen vom 29. Juli 2015 – IV ZR 384/14, VersR 2015, 1101 Rn. 32; IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 30; vgl. BeckOK- VVG/Schepers, § 5a a.F. Rn. 45 f. [Stand: 1. November 2022]; vgl. auch Heyers, NJW 2014, 2619, 2621).

 

aa) Zwar gibt es im deutschen Recht keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach geringfügige Pflichtverletzungen oder Mängel stets ohne Folgen bleiben (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB 82. Aufl. § 242 Rn. 53; NK-BGB/Krebs, 4. Aufl. § 242 Rn. 88). Es ist aber anerkannt, dass nach dem aus § 242 BGB hergeleiteten sogenannten Übermaßverbot bestimmte schwerwiegende Rechtsfolgen bei nur geringfügigen Vertragsverletzungen nach Treu und Glauben nicht eintreten (vgl. BGH, Urteile vom 15. Februar 1985 – V ZR 131/83, WM 1985, 876 unter II 2 b [juris Rn. 15]; vom 28. September 1984 – V ZR 43/83, NJW 1985, 266 unter II 2 d [juris Rn. 23]; vom 8. Juli 1983 – V ZR 53/82, BGHZ 88, 91 unter I 2 b aa [juris Rn. 23]; vgl. auch BeckOGK/Kähler, BGB § 242 Rn. 1184 [Stand: 15. September 2022]; NK-BGB/Krebs aaO). Dies wurde unter anderem angenommen bei für die Feststellung des Versicherungsfalles oder des Schadensumfanges folgenlosen, die berechtigten Interessen des Versicherers nicht ernsthaft gefährdenden Obliegenheitsverletzungen durch den Versicherungsnehmer, die andernfalls zu einer gänzlichen Leistungsfreiheit des Versicherers geführt hätten (vgl. Senatsurteile vom 7. Juli 2004 – IV ZR 265/03, VersR 2004, 1117 [juris Rn. 10]; vom 21. April 1982 – IVa ZR 267/80, BGHZ 84, 84 unter I 1 [juris Rn. 9]; vom 16. Januar 1970 – IV ZR 645/68, BGHZ 53, 160, 164 ff. [juris Rn. 11, 13]; jeweils zu § 7 V AKB a.F.; vgl. auch BGH, Urteil vom 8. Juli 1981 – VIII ZR 247/80, NJW 1981, 2686 unter I 4 [juris Rn. 14]).

 

Danach verstößt die Ausübung des Widerspruchsrechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Denn dies stellt eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung dar. In einem solchen Fall bleibt es dem über sein Widerspruchsrecht informierten Versicherungsnehmer vielmehr unbenommen, dieses Recht innerhalb der Frist des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. wie bei ordnungsgemäßer Belehrung auszuüben, sodass es unverhältnismäßig wäre, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus dem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 79 f.).

 

bb) Dem steht – anders als die Revision meint – nicht die zum Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen ergangene Entscheidung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 12. Juli 2016 (XI ZR 564/15, BGHZ 211, 123 Rn. 1, 40 f.) entgegen. Danach komme es im Rahmen der Verwirkung für das Umstandsmoment nicht darauf an, wie gewichtig der Fehler ist, der zur Wirkungslosigkeit der Widerrufsbelehrung führt. Für die Bildung schutzwürdigen Vertrauens der Bank spiele es keine Rolle, dass sie den Verbraucher überhaupt belehrt habe. Zudem habe der Gesetzgeber einen Vorschlag des Zentralen Kreditausschusses zum Entwurf der Bundesregierung für ein „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen“ vom 28. Januar 2004, innerhalb des § 355 Abs. 3 Satz 3 BGB in der dann zum 8. Dezember 2004 in Kraft gesetzten Fassung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Belehrungsmängeln zu unterscheiden und das „ewige“ Widerrufsrecht bei unwesentlichen Belehrungsmängeln einzuschränken, nicht übernommen.

 

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist hingegen ein Widerspruch gegen das Zustandekommen von Lebensbeziehungsweise Rentenversicherungsverträgen nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. Bei dem Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen nach § 495 Abs. 1 BGB und dem Widerspruchsrecht nach § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. handelt es sich um unterschiedliche Rechte in unterschiedlichen Vertragskonstellationen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2018, XI ZR 298/17, juris). Zudem geht es hier um die Anwendung des aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbots dergestalt, dass die Einräumung eines Vertragslösungsrechts unverhältnismäßig wäre, wenn dem Versicherungsnehmer durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Hinweise auf einen dieser Anwendung des § 242 BGB entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers bei Lebensbeziehungsweise Rentenversicherungsverträgen sind weder dargelegt noch ersichtlich und lassen sich – anders als die Klägerin meint – insbesondere nicht allein daraus ableiten, dass im Versicherungsvertragsrecht keine gesonderte gesetzliche Regelung zu unwesentlichen Belehrungsmängeln getroffen wurde.

 

b) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht angenommen, dass den Versicherungsnehmern durch die unrichtige Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch, obwohl nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 1. August 2001 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte, nicht die Möglichkeit genommen wurde, ihr Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (vgl. auch Burtscher, EuZW 2020, 317, 320; Lange, VersR 2020, 351, 352; a.A. Schwintowski, VuR 2022, 83, 84 f., 88). Diese Bewertung des Tatrichters kann in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 2016 – IV ZR 284/13, BetrAV 2016, 147 Rn. 19; BGH, Urteil vom 16. März 2017 – I ZR 39/15, GRUR 2017, 702 Rn. 99 m.w.N.; jeweils zur unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 BGB). Daran gemessen ist das Berufungsurteil nicht zu beanstanden. Soweit sich aus der Entscheidung des Senats vom 17. Juni 2015 (IV ZR 367/13, juris Rn. 12) etwas anderes ergibt, wird hieran nicht festgehalten.

 

aa) Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, dass die für die Widerspruchserklärung ausreichende Textform eine Erleichterung gegenüber der Schriftform darstellt. Es bedarf nicht mehr der traditionellen Schriftform, die – worauf die Klägerin zutreffend hinweist – im Unterschied zur Textform eine eigenhändige Unterschrift erfordert (§ 126 Abs. 1 BGB) und damit strengere Anforderungen stellt (vgl. Senatsurteil vom 17. Juni 2015 – IV ZR 367/13, juris Rn. 12; vgl. auch BT-Drucks. 14/4987, S. 31, 41).

Vielmehr ist eine Verkörperung in „Textform“ ausreichend, d.h. es genügt, wenn die Erklärung in Textform lesbar gemacht werden kann (vgl. Senatsurteil vom 14. Oktober 2015 – IV ZR 211/14, r+s 2016, 18 Rn. 12 m.w.N.).

 

bb) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht zunächst maßgeblich darauf abgestellt, dass der vorliegende Belehrungsfehler für den Versicherungsnehmer nicht die Gefahr begründete, einen formunwirksamen Widerspruch abzugeben. Ein – nach der fehlerhaften Belehrung erforderlicher – schriftlicher Widerspruch genügte den Anforderungen des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab dem 1. August 2001 gültigen Fassung, nach der bereits ein Widerspruch in Textform ausreichte (vgl. auch BTDrucks. 14/4987, S. 20 re. Sp. zur Ersetzung der Textform). Im Übrigen blieb es dem Versicherungsnehmer nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. trotz der fehlerhaften Belehrung unbenommen, seinen Widerspruch (wirksam) in Textform zu erklären. Mit Blick darauf handelt es sich bei der Annahme, dass der vorliegende Belehrungsfehler dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit nimmt, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung wahrzunehmen, auch nicht um die Korrektur eines vom Gesetzgeber zwingend vorgegebenen Formerfordernisses (a.A. Schwintowski, VuR 2022, 83, 84).

22Weiter hat das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass im Alltag für eine Vielzahl von (rechtsgeschäftlichen) Erklärungen die Schriftform auch bei Verbrauchern eine geradezu typische und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform ist, die für jedermann einfach und ohne besonderen Aufwand durchzuführen ist, so dass keine für ihre Effektivität relevanten Hürden entgegenstehen (vgl. OGH VersR 2020, 574 unter D.4.3 und E.3; a.A. Schwintowski, VuR 2022, 83, 84; kritisch BeckOK-VVG/Schepers, § 5a Rn. 50 [Stand: 1. November 2022]). Dementsprechend war nach § 5a a.F. Abs. 1 Satz 1 VVG in der Fassung vom 21. Juli 1994 der Widerspruch noch schriftlich und nicht etwa formlos zu erklären, ohne dass dem Versicherungsnehmer die Ausübung des Widerspruchsrechts dadurch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert worden wäre (vgl. auch Lange, VersR 2020, 351, 352).

23c) Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in dem Fall, dass dem Versicherungsnehmer durch den Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. auch Looschelders, r+s 2022, 622, 623; BeckOK-VVG/Schepers, § 5a Rn. 42 ff. [Stand: 1. November 2022]), sodass eine Vorlage an den Gerichtshof nicht veranlasst ist (vgl. zu den Maßstäben: EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management u.a., C-561/19, ECLI:EU:C:2021:799 = NJW 2021, 3303 Rn. 33 ff.).

 

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wäre es unverhältnismäßig, es dem Versicherungsnehmer, dem durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen. In solchen Fällen bliebe es dem über sein Rücktrittsrecht informierten Versicherungsnehmer unbenommen, sein Rücktrittsrecht auszuüben und sich von den eingegangenen Verpflichtungen zu lösen, so dass der Informationszweck der Lebensversicherungsrichtlinien (vgl. RL 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der RL 79/267/EWG – Zweite Richtlinie Lebensversicherung, ABl. L 330 S. 50; RL 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG – Dritte Richtlinie Lebensversicherung, ABl. L 360 S. 1; RL 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345 S. 1; RL 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit – Solvabilität II, ABl. L 335 S. 1) erfüllt werde. Das nationale Gericht habe zu prüfen, ob die fehlerhafte Belehrung derart unrichtig ist, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wurde, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wobei im Wege einer Gesamtwürdigung insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sei (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 79-81). Eine solche Prüfung wurde auch ausdrücklich für den – hier gegebenen – Fall vorgesehen, dass in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt, für den Widerspruch eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht nicht vorgeschrieben ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 76-82).

 

Dass der Gerichtshof hiervon mit seinem Urteil vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 113 ff., 119 ff.) abweichen wollte, ist nicht ersichtlich (vgl. Looschelders/Olzen in Staudinger, BGB (2019) § 242 Rn. 1247.2 [Stand: 31. August 2022]; vgl. auch BeckOK-VVG/Schepers, § 5a Rn. 43 [Stand: 1. November 2022]). Diese Entscheidung bezieht sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 der RL 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der RL 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133 S. 66; im Folgenden: Verbraucherkreditrichtlinie) vorgesehenen zwingenden Angaben fehlt. Insoweit äußert sich der Gerichtshof zu der von ihm im Versicherungsvertragsrecht vorgenommenen Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels nicht (vgl. Looschelders, r+s 2022, 622, 623 f.).

 

Dementsprechend ist – anders als die Revision meint – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 70/21, VersR 2022, 1252) kein Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof der Europäischen Union veranlasst. Diese Entscheidung betraf ebenfalls weder den ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer (vgl. Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz aaO Rn. 39) noch den – hier gegebenen und einer ordnungsgemäßen Belehrung im Wesentlichen gleichstehenden – Fall, dass dem Versicherungsnehmer durch die Belehrung, auch wenn diese fehlerhaft ist, nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (vgl. Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz aaO Rn. 46, 82; vgl. auch BeckOK-VVG/Schepers, § 5a a.F. Rn. 44 [Stand: 1. November 2022]).

 

3.a) Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, ist hier nicht entscheidungserheblich. Auch im Falle einer unterstellten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Policenmodells ist es dem – im Wesentlichen – ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten (vgl. im Einzelnen zu den Maßstäben: Senatsurteil vom 16. Juli 2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rn. 32-42; BVerfG VersR 2015, 693 Rn. 42 ff.; Beschluss vom 4. März 2015 – 1 BvR 3280/14, juris Rn. 30 ff.; vgl. auch Senatsurteil vom 10. Juni 2015 – IV ZR 105/13, VersR 2015, 876 Rn. 12-14).

 

b) Zum Einwand von Treu und Glauben ist auch hier eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht erforderlich. Die Maßstäbe für eine Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt und die Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens steht in Fällen wie dem vorliegenden in Einklang mit dieser Rechtsprechung. Die Anwendung auf den Einzelfall obliegt dem nationalen Gericht und beeinträchtigt hier die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht (vgl. Senatsurteile vom 10. Juni 2015 – IV ZR 105/13, VersR 2015, 876 Rn. 12 ff.; vom 16. Juli 2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rn. 42; jeweils m.w.N.). Eine Vorlagepflicht ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass das Landgericht Erfurt (Beschluss vom 14. Oktober 2022 – 8 O 1462/20, juris Rn. 25 f.) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet hat, das die gleiche Problematik betrifft (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015, X und van Dijk, C-72/14, C-197/14, ECLI:EU:C:2015:564 = juris Rn. 56-63).

 

aa) Die Frage, ob verbraucherschützende Widerspruchsrechte durch nationale Vorschriften zum Rechtsmissbrauch beschränkt werden dürfen, berührt zwar das Gebot der praktischen Wirksamkeit. Der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlicher Rechtsausübung steht dies aber nicht entgegen, weil die Ausübung dieser Rechte in das nationale Zivilrecht eingebettet bleibt und die nationalen Gerichte ein missbräuchliches Verhalten auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union berücksichtigen dürfen (BVerfG VersR 2015, 693 Rn. 44 m.w.N.).

 

bb) Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40), die zu der Verbraucherkreditrichtlinie ergangen ist und zudem – ebenfalls anders als im vorliegenden Fall – den nicht ordnungsgemäß belehrten Verbraucher betrifft (vgl. EuGH aaO Rn. 113 ff., 119 ff.).

31Für den Bereich der Lebensversicherungen hat der Gerichtshof der Europäischen Union festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können, womit naturgemäß Einschränkungen des Rücktrittsrechts einhergehen können. Das gilt sowohl für die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung als auch für die Richtlinien 2002/83/EG und die Solvabilität II – Richtlinie (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 55, 62 zur Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung; Beschluss vom 28. Mai 2020, WWK Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit, C-803/19, ECLI:EU:C:2020:413 = juris Rn. 27 f. zur RL 2002/83/EG und Solvabilität II-Richtlinie). Dabei müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 55, 62).

32Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof im Anschluss an seine Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40) für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Versicherungsvertrag bestätigt (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, ECLI:EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 120, 123 zur Richtlinie 2002/83/EG). Es ist Sache der Mitgliedstaaten, diese Aspekte des Versicherungsvertragsrechts zu regeln und dabei dafür zu sorgen, dass unter Berücksichtigung des mit den Richtlinien verfolgten Zwecks deren praktische Wirksamkeit gewährleistet ist (vgl. EuGH aaO Rn. 120). Insoweit ist es Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob die praktische Wirksamkeit des Rücktrittsrechts und der Mitteilungspflicht gewährleistet ist (vgl. EuGH aaO Rn. 123, 125; vgl. auch EuGH, Urteil vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, ECLI:EU:C:2000:150 = ZIP 2000, 663 Rn. 34 f.).

33Daraus folgt, dass es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen hier nicht ankommt (a.A. Ebers, VuR 2022, 203, 205 f.; Knops, RabelsZ 85 [2021], 505, 528 f.; Mährlein VuR 2022, 145, 146; Tiedemann, jurisPR-BKR 1/2022 Anm. 3 unter C und D; Schwintowski, VuR 2022, 83, 88), sondern ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien zulässig ist, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien nicht beeinträchtigt wird (vgl. BeckOK-VVG/Schepers, § 5a a.F. Rn. 53 [Stand: 1. November 2022]; Looschelders, r+s 2022, 622, 623; vgl. auch BeckOGK/Kähler, BGB § 242 Rn. 319, 330, 333, 335 ff. [Stand: 15. September 2022]; MünchKommBGB/Schubert, 9. Aufl. § 242 Rn. 112, 507; EuGH, Urteil vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, ECLI:EU:C:2000:150 = ZIP 2000, 663 Rn. 34), was vom nationalen Gericht zu prüfen ist (vgl. auch BVerfG NJW 2022, 2828 Rn. 19; EuGH, Urteile vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, ECLI:EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 123, 125; vom 23. März 2000 aaO Rn. 34 f.).

 

Dies übersieht die von der Klägerin angeführte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz (VersR 2022, 1252), die zudem den nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer betrifft. Zwar liegt es in der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, dem nationalen Gericht alle geeigneten Auslegungskriterien für die Beurteilung der Frage, ob die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts gewährleistet ist, an die Hand zu geben (vgl. EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, ECLI:EU:C:2013:864 = VersR 2014, 225 Rn. 19; vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, ECLI:EU:C:2000:150 = ZIP 2000, 663 Rn. 34 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2022, 2828 Rn. 19). Die von den Lebensversicherungsrichtlinien verfolgten Zwecke sind aber in der Rechtsprechung des Gerichtshofs für den vorliegenden Fall hinreichend geklärt.

35Danach verfolgen die Lebensversicherungsrichtlinien den Informationszweck, eine genaue Belehrung des Versicherungsnehmers insbesondere über sein Rücktrittsrecht vor Abschluss des Vertrages sicherzustellen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, ECLI:EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 63- 71) . Zudem haben sie das Ziel, dem Versicherungsnehmer einen gewissen Zeitraum zur Verfügung zu stellen, um unter den verschiedenen verfügbaren Versicherungsverträgen den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen und auf informierter Grundlage zu entscheiden, ob er sich vertraglich binden will (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, ECLI:EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 115). Er soll deshalb von einem Vertrag zurücktreten können, bei dem sich nach dessen Abschluss innerhalb der für die Ausübung des Rücktrittsrechts vorgesehenen Überlegungsfrist herausstellt, dass er nicht seinen Bedürfnissen entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 101).

36cc) Die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben beeinträchtigt angesichts der besonderen Umstände des Streitfalles die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts und den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht.

 

(1) Das in den Lebensversicherungsrichtlinien vorgesehene Recht, sich vom Vertrag zu lösen, wird dem Versicherungsnehmer, dem nach jahrelanger Durchführung des Vertrages die Berufung auf dessen Unwirksamkeit wegen Richtlinienwidrigkeit des Policenmodells nach Treu und Glauben versagt ist, nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert. Denn der Gesichtspunkt von Treu und Glauben greift keineswegs stets bei ordnungsgemäßer Belehrung, sondern nur in Fällen jahrelanger Durchführung des Vertrages (vgl. Senatsurteil vom 16. Juli 2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rn. 41). Der Zweck der Lebensversicherungsrichtlinien, eine genaue Belehrung des Versicherungsnehmers über sein Rücktrittsrecht vor Abschluss des Vertrages sicherzustellen, wird ebenfalls nicht berührt, wenn einem Versicherungsnehmer, der vom Versicherer dem geltenden nationalen Recht entsprechend ordnungsgemäß belehrt wurde oder sich aus den genannten Gründen auf einen Belehrungsfehler nicht berufen kann, nach jahrelanger Durchführung des Vertrages die Geltendmachung eines bereicherungsrechtlichen Anspruchs unter Berufung auf ein gemeinschaftsrechtswidriges Zustandekommen des Vertrages verwehrt wird (vgl. Senatsurteil vom 16. Juli 2014 aaO Rn. 42). Gleiches gilt im Hinblick auf das weitere Ziel der Lebensversicherungsrichtlinien, dem Versicherungsnehmer auf informierter Grundlage die Auswahl des seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrages zu ermöglichen. Dieses Ziel ist hier ebenfalls nicht gefährdet, weil die Versicherungsnehmer den Versicherungsschein, die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation erhalten haben, sodass sie von den ihren Vertrag betreffenden Informationen Kenntnis nehmen konnten.

 

Entscheidend ist im Streitfall, dass die Versicherungsnehmer die Versicherungsverträge in Vollzug gesetzt und über mehrere Jahre durchgeführt haben, obwohl sie nach dem geltenden nationalen Recht über die Möglichkeit, die Verträge ohne Nachteile nicht zustande kommen zu lassen, ordnungsgemäß belehrt wurden bzw. sich aus den genannten Gründen auf einen Belehrungsfehler nicht berufen können. Die Widerspruchsfrist wurde erst mit der Überlassung der Unterlagen in Gang gesetzt und die Versicherungsnehmer hatten es mit dem Widerspruch in der Hand, die aus der verspäteten Information resultierenden Nachteile zu vermeiden (vgl. Looschelders, VersR 2016, 7, 14). Hier kommt hinzu, dass sie die Verträge sodann zunächst nicht einmal rückwirkend, sondern lediglich durch Kündigung mit Wirkung für die Zukunft beendet haben, sich den vom Versicherer auf die Kündigung hin berechneten Rückkaufswert haben auszahlen lassen und erst danach unter Berufung auf die behauptete Unwirksamkeit der Verträge diese von Anfang an nicht mehr haben gelten lassen wollen und Rückzahlung aller Prämien verlangt haben. Maßgeblich ist das Verhalten der Versicherungsnehmer, das ein vorrangig schutzwürdiges Vertrauen bei dem Versicherer in den Bestand der Verträge für die Vergangenheit begründet hat (vgl. Senatsurteil vom 10. Juni 2015 – IV ZR 105/13, VersR 2015, 876 Rn. 14). Diese vertrauensbegründende Wirkung war für die Versicherungsnehmer auch erkennbar (vgl. Senatsurteil vom 27. Mai 2015 – IV ZR 36/13, r+s 2015, 336 Rn. 12).

 

(2) Mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union steht ebenfalls in Einklang, dass für den im nationalem Recht aus widersprüchlichem Verhalten hergeleiteten Einwand des Rechtsmissbrauchs unredliche Absichten oder ein Verschulden des Versicherungsnehmers nicht erforderlich sind (vgl. Senatsurteil vom 16. Juli 2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rn. 37, 42; vgl. auch BeckOGK/Kähler, BGB § 242 Rn. 316, 343 [Stand: 15. September 2022]; a.A. Knops, RabelsZ 85 [2021], 505, 520 ff.; Knops/Fromm, WM 2021, 2169, 2178 f.). Nach der Entscheidung des Gerichtshofs vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, ECLI:EU:C:2021:736 = NJW 2022, [40] Rn. 122) setzt zwar die Feststellung eines Missbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.

 

Diese Ausführungen betreffen aber allein den unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs, der speziell die Vorgänge betrifft, die nur zu dem Zweck stattfinden, missbräuchliche Vorteile aus dem Unionsrecht zu ziehen oder Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen (vgl. BVerfG VersR 2015, 693 Rn. 45 m.w.N.; vgl. auch MünchKommBGB/Schubert, 9. Aufl. § 242 Rn. 112). Darum geht es hier aber nicht. Entscheidend ist – wie ausgeführt – vielmehr das widersprüchliche Verhalten der Versicherungsnehmer, das für diese erkennbar ein schutzwürdiges Vertrauen bei dem Versicherer geweckt hat. Hierauf geht die von der Klägerin angeführte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs RheinlandPfalz (VersR 2022, 1252 Rn. 73) nicht ein, soweit sie sich auf das Erfordernis eines subjektiven Elements bei der Prüfung, ob einem Verbraucher die Berufung auf ein ihm garantiertes Widerspruchsrecht wegen Rechtsmissbrauchs verwehrt werden dürfe, bezieht; im Übrigen betrifft diese Entscheidung den – hier nicht gegebenen – Fall des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers (vgl. nur VerfGH Rheinland-Pfalz aaO Rn. 35, 39).

 

Vorinstanzen:

LG Berlin, Entscheidung vom 22.10.2020 – 24 O 26/20 –

KG Berlin, Entscheidung vom 09.07.2021 – 6 U 1139/20