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Unfallversicherung: Beweiswert des behandelnden Arztes

Das OLG Brandenburg (11. Zivilsenat) hat sich in seinem Urteil vom 22.12.2022 (11 U 115/22) sehr lehrreich mit der Frage auseinandergesetzt, welchen Beweiswert die Atteste und Aussagen des behandelnden Arztes des Versicherungsnehmers bezüglich der Frage haben, inwiefern Beschwerden auf ein konkretes Unfallereignis zurückzuführen seien.

 

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Der Kläger verlangt von der beklagten Versicherungsgesellschaft Leistungen aus einer Unfallversicherung.

 

Das Landgericht hat in erster Instanz bereits vor der mündlichen Verhandlung gemäß § 358a ZPO Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Der Kläger wandte einen Betrag von 22,83 EUR für die Beibringung der aus Sicht des Sachverständigen notwendigen Behandlungsunterlagen auf. Ferner hat das Landgericht den Sachverständigen Dr. med. S. H. zur Erläuterung seines Gutachtens befragt und den behandelnden Arzt des Klägers, Dipl.-Med. H. M., als Zeugen vernommen. 

 

Das Landgericht - Einzelrichterin - hat die Klage mit Urteil vom 26.04.2022 abgewiesen. 

 

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landgericht ausgeführt, dass der Kläger nicht den Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall vom 18.04.2017 und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden nachgewiesen habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne allenfalls davon ausgegangen werden, dass der Kläger infolge des Sturzes eine Kniegelenkszerrung erlitten habe, die allerdings folgenlos ausgeheilt sei. Ursache der Beeinträchtigungen des Klägers sei vielmehr eine bereits vor dem Unfall bestehende degenerative Erkrankung (Arthrose), die sich im weiteren Verlauf schicksalsbedingt verschlimmert habe. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Unfall eine Aktivierung der Arthrose bewirkt habe.

 

Das OLG Brandenburg begründete seine Entscheidung wie folgt:

 

Entgegen den Ausführungen der Berufung hat der medizinische Sachverständige seine äußerst gründlichen Begutachtung auf einer hinreichenden Grundlage erstellt. So befasste er sich nicht nur mit der Vorgeschichte entsprechend den Schilderungen des Klägers (Bl. 2 ff. Gutachten), dessen allgemeiner Krankengeschichte (Bl. 4 Gutachten), seinen beruflichen und sportlichen Tätigkeiten (Bl. 5 Gutachten) und den aktuellen Einschränkungen (Bl. 5 f. Gutachten), sondern legte seiner Untersuchung insbesondere auch eine detaillierte Krankengeschichte in Bezug auf die streitgegenständliche Verletzung einschließlich der bildgebenden Diagnostik und den außergerichtlich von der Beklagten eingeholten Gutachten zugrunde (Bl. 9 bis 26 Gutachten), wie sie sich ihm anhand der Aktenlage darbot. Ferner hat er den Kläger persönlich untersucht (Bl. 6 ff. Gutachten).

 

Der Sachverständige hat sodann plausibel und widerspruchsfrei ausgeführt (Bl. 26 ff. Gutachten) wie er zu der Gesamteinschätzung gelangte, dass zwar nicht auszuschließen sei, dass das fragliche Unfallereignis vom 18.04.2017 zu einer leichtgradigen Zerrung des linken Kniegelenks geführt habe, es aber nicht zu einer strukturellen Schädigung des Kniegelenks gekommen sei. Eine eventuell erlittene Zerrung sei spätestens nach sechs Wochen funktionell folgenlos ausgeheilt. Die Gesundheitsschäden im linken Bein des Klägers seien die Folge eines schicksalhaften Verlaufs einer degenerativen, anlagebedingten Gelenkserkrankung, die auch nicht durch den in Rede stehenden Unfall aktiviert worden sei.

 

Dies erläuterte der Sachverständige auch für Laien nachvollziehbar damit, dass die Röntgen- und MRT-Bilder aus dem Jahr 2017 zwar bereits eine Knorpel- und Meniskusschädigung mit multiplen Rissbildungen zeigen, die jedoch sämtlich im Innenbereich des Gelenks zu verorten sind. Eine traumatisch bedingte Rissbildung im Innengelenk sei aber ohne gleichzeitige Verletzung des umgebenden Kapsel-Bandappartes, die hier nicht vorgelegen habe, biomechanisch ausgeschlossen. Für eine degenerative Erkrankung spreche auch, dass es im Falle einer traumatischen Verletzung meistens zu einer scharfkantigen Rissbildung im Meniskus komme; die Bildgebung habe vorliegend jedoch einen aufgefaserten Riss gezeigt. Der Sachverständige bestätigte damit im Wesentlichen das außergerichtlich von der Beklagten eingeholte Gutachten des Sachverständigen K… B… (Anlage B3, Bl. 63 ff. GA) wie auch die ärztliche Stellungnahme des Dr. L… (Anlage B4, Bl. 87 f. GA).

36Der Sachverständige führte weiter aus, dass vielmehr bereits die Röntgenaufnahmen vom 31.07.2017 und die MRT-Untersuchung vom 18.10.2017 eine beginnende, medial betonte Gonarthrose wiedergegeben hätten.

 

Überdies führe eine traumatische Meniskusschädigung in aller Regel zu einer hochgradig schmerzhaften Funktionsstörung, die eine engmaschige ärztliche Behandlung und weitergehende Diagnostik erforderlich gemacht hätte. Offensichtlich sei auch der behandelnde Arzt des Klägers, der Zeuge M., nicht von einer traumatischen Meniskusschädigung, sondern einer degenerativen Erkrankung ausgegangen, da er den Kläger klassisch mit Carbostesin und Triam behandelte, keine weiterführende radiologische Diagnostik veranlasste und den Kläger nur in vergleichsweise großen Abständen am 24.04.2017, 31.07.2017 und 25.09.2017 behandelte.

 

Das Ergebnis des Gutachtens wird nicht etwa dadurch infrage gestellt, dass der Kläger - nach Vorlage des Gutachtens - behauptete, die von dem Zeugen M. geführte Patientenakte sei unvollständig. Tatsächlich habe der Zeuge ihn in dem Zeitraum vom 24.04.2017 bis zum 28.11.2017 insgesamt neunmal behandelt. Der Sachverständige durfte diese streitige Behauptung seiner weiteren Begutachtung ohne richterliche Anweisung ohnehin nicht zugrundelegen. Soweit das Landgericht diese Behauptung nicht als erwiesen angesehen hat, ist dies nicht zu beanstanden. Die diesbezüglich erfolgte Vernehmung des Zeugen M. bestätigte dies nicht zur Überzeugung des Gerichts. Der Zeuge verhielt sich insoweit äußerst vage, die Aussage war insgesamt unergiebig (“Es mag sein, dass ich die nunmehr behaupteten Termine […] nicht vermerkt habe“; „ich bin ein Computertrottel“; „warum sie hier nicht nachgetragen wurden, weiß ich nicht“; „Was bei den Terminen gemacht wurde, weiß ich nicht“; „ich habe nur WV vermerkt“). Die Zweifel des Landgerichts an der Belastbarkeit dieser Aussage sind berechtigt, zumal sie durchaus auch widersprüchlich war, etwa soweit der Zeuge angab, die Wiedervorlagen jeweils vermerkt zu haben, mehrere Termine aber jeweils tatsächlich nicht in der Patientenakte aufgeführt sind.

 

Gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage spricht im Übrigen auch, dass der Zeuge trotz vorliegender Entbindung von der Schweigepflicht auf die richterliche Anordnung zur Vorlage der gesamten Patientenakte des Klägers selbst unter Androhung von Ordnungsgeld nicht reagierte (vgl. Bl. 238 Rü GA). Es ist lebensfern, dass der Zeuge gerade vor diesem Hintergrund nicht wenigstens in Vorbereitung auf seine Vernehmung die Akte eingehend studierte, sondern hierzu letztlich ebenfalls wenig aussagekräftig unter anderem ausführte, dass er sich nicht erinnern könne, was er zwischen 2004 und 2017 bei dem Kläger behandelt habe, hierzu müsse er erst nachschauen (vgl. Bl. 2 des Protokolls vom 29.03.2022).

 

Hierauf kommt es jedoch nicht entscheidend an, da der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung ergänzte, dass er bei der Einschätzung in dem Gutachten vom 07.01.2022 verbleibe, selbst wenn man unterstelle, die weiteren, behaupteten Behandlungstermine hätten tatsächlich stattgefunden.

 

Zu Unrecht verweist der Kläger hinsichtlich seiner Behauptung, dass der Zeuge M. ihn von Anfang an wegen unfallbedingter Verletzungen behandelte, auf die Atteste des Zeugen M. vom 08.10.2019 (Anlage K3, Bl. 34 GA) und 10.03.2021 (Bl. 205 GA). Diese Atteste wurden erkennbar anlassbezogen auf das Gutachten B. vom 02.07.2019 (Anlage B3) und das Gutachten des Sachverständigen Dr. H. vom 07.01.2021 erstellt und besitzen schon deshalb einen ebenso begrenzten Glaubhaftigkeitsgehalt, wie seine übrigen Aussagen, weil er etwa die in dem Attest vom 10.03.2021 noch ausdrücklich bestätigten Behandlungstermine vom 27.04.2017, 02.05.2017, 15.05.2017 und 20.06.2017 bei seiner Vernehmung wieder relativierte.

 

Soweit die Berufung ferner nunmehr erstmalig unter Vorlage der Anlagen BK1 und BK2 belegen möchte, dass die Präparate Carbostesin und Triam durchaus geeignet sind, um traumatische Verletzungen zu behandeln, ist sie hiermit gemäß § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert und wird hiermit ausdrücklich zurückgewiesen. Die Frage, inwieweit der Zeuge M. den Kläger „klassisch“ mit diesen Medikamenten wegen einer degenerativen Erkrankung behandelte, war bereits seit der Klageerwiderung als erheblicher Umstand erkennbar Gegenstand des Verfahrens. Die Parteien erhielten überdies mit Übersendung des Gutachtens vom 07.01.2021 aufgrund der richterlichen Verfügung vom 22.01.2021 ausreichend Gelegenheit, innerhalb von vier Wochen ihre Einwendungen gegen das Gutachten mitzuteilen.

 

Auch der Einwand der Klägerseite, wonach nicht erklärlich sei, dass lediglich das linke Bein betroffen sei, wenn es sich um eine anlagebedingte, degenerative Erkrankung handele, ist unbehelflich. Denn der Sachverständige hat auch ausgeführt, dass die Arthrose im Bereich der paarigen Extremitäten nicht zwingend auch einen gleichzeitigen Verlauf haben müsse. Im Übrigen zeige eine weitere, neuere Röntgenaufnahme nunmehr tatsächlich auch im rechten Kniegelenk einen ähnlichen Befund wie jenen vom 31.07.2017 für das linke Kniegelenk mit beginnender medial betonter Arthrose.

 

Entgegen der Behauptung der Klägerseite hat der Sachverständige durchaus zur Kenntnis genommen, dass der Zeuge M. den Kläger bereits im ersten Untersuchungstermin am 24.04.2017 im linken Knie punktierte (vgl. Bl. 9 f. Gutachten). Der Sachverständige hat auch gerade nicht ausgeschlossen, dass es durch den Unfall tatsächlich zu einer Kniegelenkzerrung gekommen ist, die allerdings folgenlos verheilt sei.

45In diesem Zusammenhang war die weitere Beweiserhebung durch Vernehmung der Ehefrau des Klägers, wonach dieser seit dem Unfall vom 18.04.2017 durchgehend an starken Schmerzen gelitten habe, nicht veranlasst. Denn der Sachverständige hat - auch insoweit in Einklang mit dem außergerichtlichen Gutachten des Sachverständigen B… (Anlage B3) - erläutert, dass es im Falle einer traumatischen Verletzung mit zunehmendem Zeitablauf zu einem Abklingen der Schmerzen hätte kommen müssen. Insoweit belegen die von Klägerseite behaupteten dauerhaften Schmerzen sogar eher die Einschätzung des Sachverständigen.

46Letztlich konnte der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens auch fundiert darlegen, dass sich anhand der vorgelegten Behandlungsunterlagen keine Belege dafür gefunden haben, dass der streitgegenständliche Unfall zu einer Aktivierung der bereits angelegten Arthrose geführt habe. Diese habe vielmehr bereits zu diesem Zeitpunkt in beiden Beinen in moderatem Umfang bestanden. Eine Infektion in den Jahren 2018/2019 habe zu einem fulminanten Verlauf der Arthrose und schließlich zur Destruktion des Kniegelenks geführt.

 

Insgesamt hat der Sachverständige damit schlüssig und in sich widerspruchsfrei dargelegt, dass dem Unfall vom 18.04.2017 keinerlei (Mit-)Verursachungsanteil bezüglich der eingetretenen Invalidität zukommt. Der Senat ist ebenso wie das Landgericht von der Richtigkeit des Gutachtens überzeugt und folgt diesem.

 

4. Die Widerklage ist begründet. Die Beklagte hat gegen den Kläger einen Anspruch aus §§ 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 818 Abs. 2 BGB auf Rückzahlung der Vorschussleistung in Höhe von 2.250,00 EUR. Da eine unfallbedingte Invalidität nicht vorliegt, erfolgte insoweit eine rechtsgrundlose Leistung der Beklagten an den Kläger. Der Anspruch ist nicht nach § 814 BGB ausgeschlossen, da die Beklagte den Vorschuss ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Rückforderung zahlte für den Fall, dass der endgültige Invaliditätsgrad eine Zahlung in dieser Höhe nicht rechtfertigt (vgl. Anlage B2).