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Versicherungsnehmer muss sein Gedächtnis bemühen

Das Oberlandesgericht Saarbrücken hat mit Urteil vom 06.09.2023 (Aktenzeichen: 5 U 87/22) den Rücktritt eines Berufsunfähigkeitsversicherers als wirksam angesehen. Die Versicherungsnehmerin hatte bei Antragstellung mehrere Arztbesuche in der Vergangenheit nicht angegeben. Das Gericht meinte, dass ihr die von ihr wahrgenommenen Behandlungen einschließlich der Umstände, die sie zum Arztbesuch veranlassten und die sie dort als ihre Beschwerden schilderte, unzweifelhaft bekannt waren. Bei zumutbarer Anstrengung ihres Gedächtnisses hätte sie sich zumindest daran erinnern können und müssen. 

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

1

Die Parteien streiten um den Fortbestand einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, aus der die Beklagte ohne Rücksicht auf einen von ihr mit Schreiben vom 20. September 2018 erklärten Rücktritt rückwirkend seit dem 1. September 2016 Leistungen wegen Berufsunfähigkeit erbringt. Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung; sie beantragte am 11. November 2014 durch ihre Geschäftsführerin, die am … 1972 geborene Frau A. M., für diese als versicherte Person bei der seinerzeit noch unter „… Lebensversicherung AG“ firmierenden Beklagten den Abschluss einer Rentenversicherung (Direktversicherung „bAV Strategie Plus“) mit eingeschlossener Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Die Beklagte nahm den Antrag an und fertigte am 24. November 2014 den Versicherungsschein Nr. … aus (vgl. Anschreiben Anlage K1). Versicherungsbeginn war danach der 1. Januar 2015, als Beginn der Rentenzahlung in der Hauptversicherung, Ende der Versicherungsdauer für die Beitragszahlung und für die Berufsunfähigkeitsrente ist jeweils der 1. März 2037 vereinbart, die garantierte monatliche Rente wegen Berufsunfähigkeit beläuft sich inklusive baV-Kundenbonus auf 1.999,99 Euro (Bl. 3 GA). Dem Vertrag liegen die Allgemeinen und die Besonderen Versicherungsbedingungen für die Rentenversicherung nach Tarif BRGV als betriebliche Altersversorgung (im Folgenden: AVB) sowie die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BUZ) zugrunde (im Anlagenkonvolut K2 enthalten).

 

2

Das auf „Seite 11 von 14“ von der Geschäftsführerin der Klägerin unterzeichnete Antragsformular enthielt auf „Seite 3 von 14“ Fragen nach der Gesundheit der zu versichernden Person, darunter:

 

B 4 Sind Sie in den letzten 5 Jahren untersucht, beraten oder behandelt worden hinsichtlich: (…)

 

> 2. Atmungsorgane (z.B. wiederholte oder chronische Bronchitis, Asthma)?

> (…)

> 5. Stoffwechsel oder Hormonhaushalt (z.B. Zuckerkrankheit, Blutfetterhöhung, Gicht, Funktionsstörung der Schilddrüse)?

> (…)

> 8. Psyche (z.B. Depression, Angststörungen, Psychosen, psychosomatische Störungen)?

> 9. Wirbelsäule, Sehnen, Bänder, Muskeln, Knochen oder Gelenke (z.B. Rückenerkrankungen, Arthrose, Rheuma)?

 

B5 Wurden Ihnen in den letzten 2 Jahren von Ärzten oder Heilpraktikern Medikamente verordnet (bitte Medikamente unter Erläuterungen angeben)

 

3

Die Geschäftsführerin der Klägerin beantwortete diese Fragen – ebenso wie alle anderen Fragen nach ihrer Gesundheit – dahin, dass sie als Antwort jeweils „nein“ ankreuzte; die weitere Frage, ob sie einen Hausarzt habe, bejahte sie und gab hierzu „Dr. M./A., …“ an. Auf „Seite 2 von 14“ des Antragsformulars befand sich als letzter Absatz vor den Gesundheitsfragen folgender fett gedruckter Hinweis:

 

4

Fragen an die zu versichernde Person Sämtliche im Antrag gestellten Fragen müssen Sie vollständig und wahrheitsgemäß beantworten. Ansonsten kann die … Lebensversicherung AG unter bestimmten Voraussetzungen den Vertrag kündigen, rückwirkend anpassen oder durch Rücktritt/Anfechtung aufheben. Bei rückwirkender Anpassung oder Aufhebung des Vertrages kann die … Lebensversicherung AG außerdem berechtigt sein, Leistungen für eingetretene Versicherungsfälle zu verweigern. Lesen Sie dazu bitte die gesonderte Mitteilung über die Folgen einer Verletzung Ihrer gesetzlichen Anzeigepflicht in Anhang B.

 

5

Auf „Seite 12 von 14“ des Antragsformulars befand sich im Anschluss an einen auf der oberen Hälfte abgedruckten „Anhang A – Weitere Hinweise für den Antragsteller und die zu versichernde(n) Person(en)“ auf der unteren Hälfte der Seite ein „Anhang B – Mitteilung nach § 19 Abs. 5 VVG über die Folgen einer Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht“, der Informationen über die vorvertragliche Anzeigepflicht und deren Folgen, insbesondere Rücktritt und Wegfall des Versicherungsschutzes, Kündigung und Vertragsanpassung sowie weitere Hinweise zur Ausübung der Rechte durch den Versicherer enthielt. In beiden Anhängen sind die Überschriften sowie die Zwischenüberschriften in den Erläuterungen jeweils durch Fettdruck hervorgehoben; nach Behauptung der Beklagten sollen die Überschriften im seinerzeit verwendeten Originalformular außerdem durch Farbbalken unterlegt gewesen sein. Schließlich enthielt das Formular auf „Seite 10 von 14“ unmittelbar vor den Unterschriften als letzten Satz eines fett gedruckten Absatzes den Hinweis, dass „Anhang B“ den Unterzeichner „über die Folgen einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht“ informiere.

 

6

Im Mai 2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Versicherungsleistungen mit der Begründung, dass bei der Versicherten Berufsunfähigkeit ab dem 29. August 2016 eingetreten sei. Nach Abgabe einer Selbstauskunft vom 12. August 2018 holte die Beklagte Auskünfte des Hausarztes der Versicherten, des Zeugen Dr. S. A., ein, der das entsprechende Formular der Beklagten am 28. August 2018 ausfüllte und ihr einige Tage später Behandlungsunterlagen aus dem Zeitraum November 2009 bis April 2019 (Anlagen B2 und B3) zusandte, in der verschiedene Arzttermine der Versicherten vermerkt waren, u.a.

 

  • 18. Juni 2012 HWS-Schultersyndrom links Diclo im, Mea-Infiltr., seit letzte Nacht Schmerzen li Schulter
  • 17. April 2013 seit Wo zunehmende Schlafstörung, nervös, tagsüber müde, Wortfindungsstörung, Gewichtzunahme trotz Sport, Hände + Unterarme schlafen ein, Hüsteln + Räuspern Bronchiale Hyperreagibilität
  • 17. April 2013 EKG
  • 22. April 2013 V.a. mittelgradige depressive Episode Laborberatung
  • 30. April 2013 Kontrolluntersuchung der Sd Sono Sd Sonographie Befund Abdomen Sonographie Befund Sono Sd
  • 30. April 2013 Psychogene Insomnie somatoforme autonome Funktionsstörung mehrerer Organe und Systeme, psychogene Insomnie, somatoforme autonome Funktionsstörung von Herz und Kreislaufsystem, verbale Intervention: Nervosität, Unruhe, Schlafstörung, Depression -> multiple psychosomatische Beschwerden Rezept: Trimipramin AL 40mg/ml Tr TRO N1 30 ml
  • 6. November 2013 Grünes Rezept, Trimipramin AL 40mg/ml Tr TRO N1 30 ml
  • 28. Mai 2014 seit letzte Nacht Rückenschmerz kein DS, kein KS, grob neurol. oB Diclo Im, Mea-Infirtr., weiter Diclo po Diclo 75 SI 1A Pharma RET N1 20 St.

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Mit Schreiben vom 20. September 2018 (Anlage K3), das der Klägerin und der Versicherten jeweils am 25. September 2018 zuging, erklärte die Beklagte den Rücktritt von der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, weil die Versicherte bei Antragstellung Behandlungen wegen Reizhustens, bronchialer Hyperreagibilität seit November 2009, eines HWS-Schultersyndroms vom 18. Juni 2012, multipler psychosomatischer Beschwerden, behandelt am 13. April 2013 sowie die Behandlung von Rückenschmerzen am 28. Mai 2014 nicht angegeben habe. Nachdem sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin bestellt hatte, räumte die Beklagte ein, dass es sich bei der Behandlung wegen Reizhustens und bronchialer Hyperreagibilität nicht um risikorelevante Vorerkrankungen handele, im Übrigen hielt sie an ihrem Rücktritt fest. Mit Schreiben vom 17. März 2019 teilte sie mit, dass sie nach Abschluss der Leistungsprüfung ihre Leistungspflicht anerkenne und Leistungen wegen Berufsunfähigkeit erbringen werde, da die nicht angezeigten Vorerkrankungen in keinem Zusammenhang mit den Beschwerden stünden, wegen denen Berufsunfähigkeit geltend gemacht worden sei.

 

8

Die Klägerin, die mit ihrer Klage den Fortbestand des Versicherungsvertrages ohne Rücksicht auf „Rücktritt oder Kündigung“ festgestellt wissen möchte und außerdem erstinstanzlich noch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.100,51 Euro angetragen hatte, hat eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung ihrer vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit in Abrede gestellt. Sie hat behauptet, die ärztlichen Behandlungen wegen eines HWS-Schulter-Syndroms im Jahre 2012 und wegen Rückenschmerzen im Jahre 2014 seien ihrer Geschäftsführerin nicht mehr in Erinnerung gewesen, auch bei der Krankenversicherung seien keine entsprechenden Behandlungen vermerkt. Ohnehin seien solch unspezifische und einmalige Rückenschmerzen als Bagatellerkrankungen nicht anzeigepflichtig, auch die vor dem Arzttermin am 18. Juni 2012 aufgetretenen Verspannungen im Schulterbereich seien zeitnah danach vergangen und, ebenso wie der Arzttermin, der Versicherten bei Antragstellung nicht mehr erinnerlich gewesen. Ihren Hausarzt habe sie am 30. April 2013 wegen Schlafstörungen und Nervosität konsultiert, an „multiplen psychosomatischen Beschwerden“ habe sie nicht gelitten, diese Diagnose sei ihr auch nicht mitgeteilt worden und die offenbar stressbedingten Symptome, die diese Diagnose auch nicht gerechtfertigt hätten, seien in der Folge nicht mehr aufgetreten oder behandelt worden. Auch dieses Beschwerdebild sei ihr bei Antragstellung nicht in Erinnerung gewesen, zudem hätte sie es auch nicht der Frage nach Behandlungen der Psyche oder einer anderen im Formular beispielhaft erwähnten Erkrankung zugeordnet.

 

9

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat den von ihr erklärten Rücktritt für wirksam gehalten und behauptet, die Versicherte habe die ihr gestellten Gesundheitsfragen bewusst wahrheitswidrig verneint, indem sie ärztliche Untersuchungen wegen eines HWS-Schultersyndroms, Rückenschmerzen und multipler psychosomatischer Beschwerden, einschließlich der aus diesem Anlass erfolgten Behandlungen durch Injektionen und Medikamente, nicht angegeben habe. Entsprechendes gelte für die am 22. April 2013 gestellte Verdachtsdiagnose einer mittelgradigen depressiven Episode und die am 30. April 2013 erfolgte Behandlung wegen Nervosität, psychosomatischer Beschwerden, Schlafstörungen etc., aus deren Anlass, ebenso wie erneut am 6. November 2013, das Antidepressivum Trimipramin verordnet worden sei. Diese Diagnosen seien der Versicherten mitgeteilt worden; zumindest hätte diese sich bei gehöriger Anstrengung ihres Gedächtnisses jedenfalls an die streitgegenständlichen Behandlungen erinnern können und müssen. Die verschwiegenen Behandlungen und Untersuchungen seien auch gefahrerheblich gewesen. Nach den vor ihr angewendeten Risikoprüfungsgrundsätzen (Anlagen B4, B5) hätte sie bei Kenntnis von den psychosomatischen Beschwerden und der somatoformen Störung den Antrag nur unter Vereinbarung einer Ausschlussklausel für psychische und psychosomatischen Erkrankungen angenommen; bei Kenntnis von dem HWS-Schulter-Syndrom hätte sie den Antrag nur bei Vereinbarung einer Ausschlussklausel für sämtliche Erkrankungen und Funktionsstörungen der Wirbelsäule angenommen. Auch sei die Versicherte über die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit formal ordnungsgemäß – im Wege einer sog. „Doppelbelehrung“ – unterrichtet worden.

 

10

Das Landgericht Saarbrücken hat die Geschäftsführerin der Klägerin informatorisch angehört und mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Inhalt auch hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, unter Klagabweisung im Übrigen antragsgemäß festgestellt, dass die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung bei der … Lebensversicherung AG mit der Versicherungsschein-Nummer … nicht durch Rücktritt oder Kündigung beendet worden sei und unverändert fortbestehe. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe schon keine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht durch die Versicherte nachgewiesen, weil auf Grundlage ihrer nachvollziehbaren, plausiblen und insgesamt glaubhaften Angaben davon auszugehen sei, dass dieser die streitgegenständlichen (wenigen) Arzt- bzw. Behandlungstermine und Untersuchungen wegen Rückenschmerzen, Schulterbeschwerden sowie psychosomatischer Beschwerde nicht mehr in Erinnerung gewesen seien. Ein Rücktritt scheitere außerdem daran, dass angesichts dessen auch das fehlende vorsätzliche Verhalten der Versicherten zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts feststehe, und die Beklagte den Vertrag in Kenntnis der nicht angezeigten Umstände jedenfalls zu anderen Bedingungen angenommen hätte. Ein ausreichend bestimmtes Verlangen auf entsprechende Anpassung des Vertrages habe die Beklagte – insbesondere in ihrem Rücktrittschreiben vom 20. September 2018 – nicht formuliert. Letztlich fehle es in jedem Fall aber auch an einer formal ordnungsgemäßen Belehrung über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung. Die von der Beklagten verwendete „Doppelbelehrung“ genüge zwar den inhaltlichen Anforderungen, auch sei der in Fettdruck gehaltene Hinweis unmittelbar vor den Antragsfragen für sich betrachtet noch ausreichend deutlich hervorgehoben, jedoch hebe sich der darin in Bezug genommene Anhang B, auch unter Berücksichtigung der behaupteten farblichen Gestaltung des Originalformulars, die mit den vorgelegten, optisch abweichenden Unterlagen nicht nachgewiesen sei, nicht ausreichend drucktechnisch vom übrigen Text ab und gehe darin insgesamt unter.

 

11

Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Unter Vorlage eines weiteren Farbausdruckes, der das Originalformular reproduzieren soll, vertieft sie ihre Darstellung zum Vorliegen einer Anzeigepflichtverletzung, die hier nicht an der Kenntnis der Versicherten scheitere, weil deren Einlassung, sie habe die verschwiegenen Umstände vergessen, unter Berücksichtigung aller Umstände nicht plausibel sei. Die gesetzliche Vorsatzvermutung sei bei all dem nicht widerlegt. Die der Versicherten erteilte Belehrung sei bei sachgerechter Berücksichtigung der Umstände auch formal wirksam gewesen. Hilfsweise sei der Vertrag, rückwirkend ab Versicherungsbeginn, durch Vereinbarung entsprechender Risikoausschlüsse anzupassen. Eine entsprechende hilfsweise Erklärung sei bereits in dem Rücktrittsschreiben vom 20. September 2018 enthalten gewesen und erfolge vorsorglich nochmals im Rahmen der Berufungsbegründung (Bl. 149 f. GA).

 

Das Gericht hat das Urteil wie folgt begründet:

 

16

Die [...] zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg und führt in der Sache zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung unter vollständiger Abweisung der Klage. Das Landgericht hat dem Antrag auf Feststellung des Fortbestehens der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung zu Unrecht stattgegeben; denn die Beklagte ist von diesem Vertrag mit Schreiben vom 20. September 2018 wirksam wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht durch die Klägerin zurückgetreten (§ 19 Abs. 2 VVG). Ungeachtet der von ihr später anerkannten Verpflichtung, Leistungen wegen eines schon zuvor eingetretenen Versicherungsfalles zu erbringen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 VVG), ist die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung durch den Rücktritt beendet worden.

 

17

1. Die Klägerin als Versicherungsnehmerin hat ihre vorvertragliche Anzeigepflicht dadurch verletzt, dass sie durch ihre Geschäftsführerin als zu versichernde Person die ihr in dem Antragsformular vom 11. November 2014 gestellten Fragen nach der Gesundheit der zu versichernden Person ausnahmslos verneinte, was – in mehrfacher Hinsicht – nicht der Wahrheit entsprach.

 

18

a) Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG hat der Versicherungsnehmer (und bei der Versicherung auf die Person eines anderen auch diese, §§ 156, 176 VVG) bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung die ihm bekannten Gefahrumstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, dem Versicherer anzuzeigen.

 

Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Die Beklagte hat der Klägerin und ihrer Geschäftsführerin als zu versichernder Person in dem schriftlichen Antragsformular vom 11. November 2014 auf Seite 3 von 14 mehrere Fragen zu ihrer Gesundheit gestellt, darunter – zulässigerweise – insbesondere, ob sie in den letzten 5 Jahren hinsichtlich bestimmter, nachfolgend im Einzelnen aufgezählter Erkrankungen oder Beschwerden, „untersucht, beraten oder behandelt“ worden sei und ob ihr in den letzten 2 Jahren von Ärzten oder Heilpraktikern Medikamente verordnet worden seien. Sämtliche dieser Fragen, die ihr unzweifelhaft ordnungsgemäß in Textform nahegebracht wurden (§ 126b BGB; vgl. dazu Senat, Urteil vom 7. Mai 2014 – 5 U 45/13, VersR 2015, 91), hat die Geschäftsführerin der Klägerin in dem Formular – durch Ankreuzen – verneint und dies durch ihre Unterschrift bestätigt. Dies entsprach jedoch nicht der Wahrheit; die Beantwortung der beiden vorgenannten, ihr in Textform gestellten Fragen war daher objektiv falsch. Wie aus der schriftlichen Auskunft ihres Hausarztes hervorgeht und von ihr letzten Endes auch nicht dezidiert in Abrede gestellt wird, befand sich die Geschäftsführerin der Klägerin nämlich – z.T. nur wenige Monate vor der Antragstellung – dort wiederholt in ärztlicher Behandlung. Am 18. Juni 2012 stellte sie sich dort wegen von ihr geklagter Schmerzen in der linken Schulter vor, die ärztlich mit intramuskulärer Injektion von Diclofenac sowie Mea-Infiltration behandelt wurden. Im April 2013 wurde sie mehrfach wegen von ihr geklagter, seit Wochen zunehmender Schlafstörung, Nervosität, Tagesmüdigkeit, Wortfindungsstörung, Gewichtzunahme trotz Sport, Einschlafen von Händen und Unterarmen sowie Hüsteln und Räuspern behandelt; aus diesem Anlass wurden umfangreiche diagnostische Maßnahmen betrieben, u.a. mittels EKG, Labor und Ultraschalluntersuchungen des Abdomens und der Schilddrüse, am 30. April 2013 wurden eine psychogene Insomnie, eine somatoforme autonome Funktionsstörung mehrerer Organe und Systeme, insbesondere von Herz und Kreislaufsystem, Nervosität, Unruhe, Schlafstörung, Depression, insgesamt multiple psychosomatische Beschwerden diagnostiziert, und es wurde der Geschäftsführerin der Klägerin ein Rezept für das Medikament Trimipramin AL 40mg/ml Tropfen N1 30 ml ausgestellt. Ein weiteres – und zwar ein sog. „grünes“ – Rezept über dasselbe Medikament wurde ihr sodann am 6. November 2013 erteilt. Am 28. Mai 2014 klagte die Geschäftsführerin der Klägerin sodann gegenüber ihrem Hausarzt erneut über Rückenschmerzen seit der letzten Nacht; aus diesem Anlass wurde sie wiederum mit Diclofenac intramuskulär und Mea Infiltration behandelt, und ihr wurden als Medikament das Schmerzmittel Diclofenac 75 SI 1A Pharma retard N1, 20 Stück, zur weiteren oralen Einnahme verordnet.

 

b) Das Vorliegen einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit wird durch den Einwand der Klägerin, beim Ausfüllen des Antrages seien ihrer Geschäftsführerin die verschwiegenen Umstände nicht mehr in Erinnerung gewesen, nicht in Frage gestellt.

 

20

(1) Zwar gehört nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die positive Kenntnis des Versicherungsnehmers (bzw. der zu versichernden Person, §§ 156, 176 VVG) von den anzuzeigenden Umständen zum objektiven Tatbestand der Anzeigeobliegenheit, den der Versicherer zu beweisen hat (BGH, Beschluss vom 25. September 2019 – IV ZR 247/18, VersR 2020, 18). Trotz des Abstellens – nur – auf die „bekannten Gefahrumstände“ in § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG erstreckt sich die Obliegenheit zur Anzeige im Hinblick auf ihren Sinn und Zweck jedoch nicht nur auf das dem Versicherungsnehmer „aktuell vorhandene jederzeit verfügbare Wissen“ (Knappmann, in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl., § 14 Rn. 54), sondern auch auf dasjenige Wissen, an das sich der Versicherungsnehmer bei „zumutbarer Anstrengung seines Gedächtnisses“ hätte erinnern können (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2009 – IV ZR 26/06, VersR 2009, 529; OLG Hamm, VersR 2020, 1304; Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG 31. Aufl., § 19 Rn. 26). Auch im Streitfall meint der Senat, dass die Geschäftsführerin der Klägerin, der die von ihr wahrgenommenen Behandlungen einschließlich der Umstände, die sie zum Arztbesuch veranlassten und die sie dort als ihre Beschwerden schilderte, unzweifelhaft bekannt waren, sich bei zumutbarer Anstrengung ihres Gedächtnisses daran hätte erinnern können und müssen, ob diese nach den vorgelegten Ausdrucken aus der Patientenkartei ihres Hausarztes mit umfassender Diagnostik und nicht unerheblichen Eingriffen – u.a. intramuskulären Injektionen von Schmerzmitteln – verbunden waren. Gerade da sie nach ihrer Darstellung nur selten zum Arzt geht, hätten sich entsprechende Erlebnisse angesichts der ausdrücklichen Fragen in dem Antragsformular zumindest im Grundsatz, wenn auch möglicherweise nicht in allen Details, in ihre Erinnerung rufen müssen.

 

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(2) Unabhängig hiervon vermag der Senat der Klägerin und ihrer Geschäftsführerin auch keinen Glauben schenken, dass diese die – zahlenmäßig überschaubaren, zugleich aber mit nicht unerheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und aufwendiger Diagnostik verbundenen – ärztlichen Untersuchungen und Beratungen in den Jahren 2013 und 2014, zuletzt auch nur wenige Monate vor Antragstellung, nicht mehr in Erinnerung hatte. Ihre mehrfach wiederholte, zuletzt allerdings auch auf eine vermeintliche Unerheblichkeit der verschwiegenen Behandlungen gestützte und dadurch weitgehend relativierte Darstellung ist unglaubhaft. Schon in ihrer Anhörung durch das Landgericht hatte die Geschäftsführerin der Klägerin auf entsprechende Fragen erklärt, sie wisse nicht mehr, ob sie damals krank gewesen sei; sie sei damals nur sehr selten beim Arzt gewesen und habe eigentlich auch keine Medikamente eingenommen, wenngleich sie es aber auch nicht ausschließen könne. Soweit sie im Anschluss erklärte, sie habe jedenfalls die Fragen verneint, weil ihr damals so etwas „nicht in Erinnerung“ gewesen sei, erscheint dies widersprüchlich und entgegen der Ansicht der Erstrichterin auch ungeeignet, eine fehlende Erinnerung nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Angesichts von Art und Anzahl der verschwiegenen Behandlungen, der aus diesem Anlass verordneten Medikation, insbesondere aber auch der dabei durchgeführten (körperlichen) Eingriffe und Untersuchungen, ist unerklärlich, dass die Geschäftsführerin der Klägerin auf die ihr unstreitig im Einzelnen vorgelesenen Fragen überhaupt keine Erinnerung an auch nur einzelne dieser Umstände gehabt haben will, die dann jedenfalls insoweit zu offenbaren gewesen wären. Die sich schon deshalb aufdrängenden Zweifel an der Redlichkeit ihrer Einlassung werden weiter verstärkt durch ihre Angaben gegenüber dem Senat, in denen sie noch weitergehend eine ihres Erachtens anzunehmende „Unerheblichkeit“ der verschwiegenen Behandlungen und der verordneten Medikation betonte, und dabei auch erwähnte, von einer an Epilepsie erkrankten Freundin zu wissen, dass diese wegen der Angabe dieser – im Gegensatz zu ihren Beschwerden – als „schwer“ einzustufenden Erkrankung keinen Versicherungsschutz erhalten habe. All dies lässt auf ein bewusstes Ausrichten ihrer Antworten an den (vermeintlichen) Anforderungen des Versicherers für die Gewährung des begehrten Versicherungsschutzes schließen und ihre maßgebliche Einlassung, sie habe bei Beantwortung der Fragen die offenbarungspflichtigen Umstände „nicht in Erinnerung“ gehabt, schlicht fernliegend erscheinen.

 

22

c) Die bei der Antragstellung verschwiegenen Umstände waren auch für den Entschluss der Beklagten, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich. Sowohl bei den wiederkehrenden Beschwerden an Schulter und Wirbelsäule, als auch bei den im April 2013 diagnostizierten psychischen Beschwerden, die eine wiederholte Verordnung des Medikaments Trimipramin zur Folge hatten, handelte es sich jeweils um einen länger andauernden krankhaften Zustand, der auch von funktionellen körperlichen Störungen und Beschwerden begleitet wurde. Dass es sich dabei lediglich um eine leichte, nicht wiederholt auftretende und deshalb für die Risikoprüfung von vornherein bedeutungslose Störung (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2009 – IV ZR 26/06, VersR 2009, 529) gehandelt haben könnte, kann daher entgegen der Ansicht der Klägerin nicht angenommen werden. Im Übrigen hat die Beklagte unter Vorlage ihrer einschlägigen Risikoprüfungsgrundsätze für den Senat nachvollziehbar und überzeugend erläutert, dass die Kenntnis sowohl der Behandlungen an Schulter und Wirbelsäule, als auch jener wegen psychischer Störungen jeweils Einfluss auf ihre Entscheidung über die Annahme des Versicherungsantrages gehabt hätte. Der Senat hält es deshalb für erwiesen (§ 286 ZPO), dass die Beklagte entsprechende Angaben benötigte, um auf dieser Grundlage das zu versichernde Risiko bewerten zu können. Letztlich liegt dies angesichts der hier in Rede stehenden ärztlichen Behandlungen aber auch auf der Hand; denn es ist allgemein und insbesondere dem mit derartigen Fällen regelmäßig befassten Senat bekannt, dass sowohl Erkrankungen und Beschwerden am Bewegungsapparat, als auch solche auf psychischem Gebiet, das Risiko des Eintritts einer Berufsunfähigkeit erhöhen und ihre Kenntnis deshalb für den Versicherer von Bedeutung ist.

 

23

2. Das sich aus der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 2 VVG ergebende Rücktrittsrecht der Beklagten ist entgegen der Ansicht der Erstrichterin auch nicht wegen eines fehlenden groben Verschuldens ausgeschlossen.

 

24

a) Gemäß § 19 Abs. 3 Satz 1 VVG ist das Rücktrittsrecht des Versicherers ausgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer die Anzeigepflicht weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hat. Vorsatz erfordert nach allgemeinen Grundsätzen das Wollen der Obliegenheitsverletzung im Bewusstsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juni 1993 – IV ZR 72/92, VersR 1993, 960 = in BGHZ 122, 388 insoweit nicht abgedruckt; RG, Urteil vom 29. September 1909 – I 310/08, RGZ 72, 4); bedingter Vorsatz, d.h. billigendes In-Kauf-Nehmen, genügt (OLG Hamm, VersR 2020, 1304; VersR 2021, 238; Härle, in: Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, Praxiskommentar 4. Aufl., § 19 Rn. 113; Langheid, in: MünchKomm-VVG 3. Aufl., § 19 Rn. 133). Die Kenntnis und das Verhalten der versicherten Person sind auch hier mit zu berücksichtigen (§§ 156, 176 VVG). Da das Gesetz den Vorsatz ebenso wie die grobe Fahrlässigkeit vermutet, ist es Sache des Versicherungsnehmers, sich zu entlasten, d.h. zu beweisen, dass er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt hat (Senat, Urteil vom 16. November 2022 – 5 U 8/22, juris; OLG Hamm, VersR 2021, 238; Armbrüster, in: Prölss/Martin, a.a.O., § 19 Rn. 161 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/3945, S. 65).

 

25

b) Vorliegend hat die Klägerin die gesetzliche Vorsatzvermutung nicht widerlegt. Der Senat vermag auch nach erneuter Anhörung ihrer Geschäftsführerin nicht mit der erforderlichen hinreichenden Gewissheit (§ 286 ZPO) festzustellen, dass diese bei Beantwortung der Antragsfragen weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt hätte; ganz im Gegenteil liegt auf der Hand, dass sie sämtliche Fragen systematisch verneinte, obschon sie sich ihrer Antwort nach eigenem Bekunden nicht sicher war, um dadurch den beantragten Versicherungsschutz nicht zu gefährden, wobei sie in Kauf nahm, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Die Geschäftsführerin der Klägerin hat in ihrer Anhörung vordergründig auf ein fehlendes Erinnern an die verschwiegenen Umstände abgestellt, im Weiteren jedoch – und zwar sehr eingehend – betont, dass sie bis dahin „nicht so arg“ erkrankt gewesen oder behandelt worden sei, dass dies aus ihrer Sicht hätte angegeben werden müssen. Heute könne sie nur noch sagen, dass keine Erkrankung vorgelegen habe und es auch nicht so gewesen sei, dass sie länger behandelt worden wäre. Es habe immer geheißen – so habe sie das allgemein gewusst –, dass eine Krankheit angegeben werden müsse, jedoch nicht, wenn man mal verrenkt sei; sie habe nichts Großartiges gehabt und deshalb sei ihr das alles nicht in Erinnerung gewesen. Man brauche ja immer mal ein Rezept; außer der Pille habe sie aber keine verordneten Medikamente eingenommen, wisse das aber auch nicht mehr so genau. Von einer Freundin, die an Epilepsie erkrankt gewesen sei, habe sie gewusst, dass diese nach Angabe der Erkrankung keinen Versicherungsschutz erhalten habe; eine solche Erkrankung, also eine schwere Erkrankung, habe sie jedoch nicht gehabt. Diese Einlassung vermag den Vorwurf der (vermuteten) vorsätzlichen Verletzung der Anzeigeobliegenheit nicht zu entkräften. Der Senat ist danach nicht davon überzeugt, dass die Geschäftsführerin der Klägerin bei der Beantwortung der Antragsfragen die von ihr erfragten Behandlungen und Verordnungen nicht mehr in Erinnerung hatte und deshalb allenfalls leicht fahrlässig die Angaben unterließ. Angesichts der von ihr wiederholt betonten „Geringfügigkeit“ der Beschwerden und des erwähnten Vergleichs mit der schweren Erkrankung ihrer Freundin, deren Angabe zur Ablehnung eines Versicherungsantrages geführt hat, hält er es vielmehr für naheliegend, dass sie die erfragten Umstände bewusst verschwieg, um die beabsichtigte Annahme des Antrages nicht zu gefährden.

 

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3. Der Rücktritt der Beklagten scheitert vorliegend auch nicht am Fehlen einer den Anforderungen des § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG genügenden Belehrung. Eine solche hat die Beklagte der Klägerin hier in dem Antragsformular ordnungsgemäß erteilt.

 

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a) Allerdings stehen dem Versicherer die Rechte nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG, mithin insbesondere das Rücktrittsrecht wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit, nur zu, wenn er den Versicherungsnehmer durch gesonderte Mitteilung in Textform auf die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat. Dabei erfordert das Merkmal einer „gesonderten Mitteilung in Textform“ in diesen Fällen zwar – anders als möglicherweise bei den §§ 6 Abs. 3 Satz 1, § 7 Abs. 1 Satz 3, § 61 Abs. 2 Satz 1 VVG; vgl. BT-Drucks. 16/3945 S. 60 – nicht zwingend die Erteilung in Form eines gesonderten Dokuments; vielmehr kann der gebotene Hinweis auch – wie hier – zusammen mit schriftlichen Fragen des Versicherers innerhalb eines Dokuments erteilt werden (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2016 – IV ZR 372/15, BGHZ 210, 113; Beschluss vom 6. Dezember 2017 – IV ZR 16/17, VersR 2018, 281; Senat, Urteil vom 9. Mai 2018 – 5 U 23/16, VersR 2018, 1314 Ls. = RuS 2019, 214). Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung sind die Anforderungen des § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG in Fällen, in denen der Versicherer den Versicherungsnehmer nicht in einer von sonstigen Erklärungen getrennten Urkunde auf die Folgen einer Anzeigeobliegenheitsverletzung hingewiesen hat, aber nur gewahrt, wenn die Belehrung drucktechnisch so gestaltet ist, dass sie sich deutlich vom übrigen Text abhebt und vom Versicherungsnehmer nicht übersehen werden kann (BGH, Urteil vom 27. April 2016 – IV ZR 372/15, BGHZ 210, 113; Beschluss vom 6. Dezember 2017 – IV ZR 16/17, VersR 2018, 281; vgl. zu § 28 Abs. 4 VVG auch BGH, Urteil vom 9. Januar 2013 – IV ZR 197/11, BGHZ 196, 67). Unter diesen Voraussetzungen sind auch sog. „Doppelbelehrungen“ zulässig, in denen der Versicherer zunächst unmittelbar im räumlichen Zusammenhang mit den gestellten Gesundheitsfragen auf die möglichen Folgen der Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht allgemein hinweist und diese sodann an einer genau bezeichneten Stelle im Einzelnen erläutert (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2016 – IV ZR 372/15, BGHZ 210, 113; Senat, Urteil vom 9. Mai 2018 – 5 U 23/16, RuS 2019, 214; OLG München, VersR 2016, 515; OLG Hamm, VersR 2020, 1304).

 

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b) Danach genügte die auf den Seiten 2 und 12 des Antragsformulars erteilte Belehrung hier den Anforderungen an einen rechtswirksamen Hinweis im Sinne des § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG. Sie ist – wovon richtigerweise auch die Klägerin und das Landgericht ausgehen – inhaltlich nicht zu beanstanden, weil der Versicherungsnehmer darin zutreffend und, in Verbindung mit den Erläuterungen auf Seite 12 des Versicherungsscheins auch umfassend, über die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung unterrichtet wird. Gleichsam sind, entgegen der Ansicht des Landgerichts, aber auch die formalen Anforderungen des Gesetzes dadurch erfüllt worden. Aufgrund des klaren, prägnant gefassten und durch Fettdruck auch ausreichend hervorgehobenen Hinweises unmittelbar vor den Antragsfragen wurde die Antragstellerin bereits deutlich und unübersehbar auf die Notwendigkeit einer vollständigen und wahrheitsgemäßen Beantwortung der ihr nachfolgend gestellten Fragen hingewiesen; zudem wurde sie ausdrücklich davor gewarnt, dass Verstöße unter bestimmten Voraussetzungen zur Kündigung, rückwirkenden Anpassung oder zu Rücktritt oder einer Anfechtung führen und die Beklagte in diesem Falle auch berechtig sein könne, ihre Leistungen für eingetretene Versicherungsfälle zu verweigern. Darüber hinaus wurde sie unter Verweis auf die „gesonderte Mitteilung über die Folgen einer Verletzung Ihrer gesetzlichen Anzeigepflicht in Anhang B“ mühelos zu der konkreten Textstelle in dem Antragsformular geführt, die weitere, ausführliche Erläuterungen zu diesen Rechtsfolgen enthielt. Das genügte bei der – gebotenen – Gesamtwürdigung, die entgegen der – von den im angefochtenen Urteil zitierten Textstellen nicht gestützten – abweichenden Ansicht des Landgerichts keine isolierte Betrachtung einzelner Belehrungselemente zulässt, den Anforderungen an eine „gesonderte Mitteilung in Textform“ im Sinne des § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG. Denn der unmittelbar vor den Antragsfragen befindliche, in Fettdruck gehaltene und dadurch schon bei oberflächlicher Betrachtung ins Auge springende Hinweis hob sich ausreichend deutlich vom übrigen Text ab und konnte von der Geschäftsführerin der Klägerin ebenso wenig übersehen werden wie die darin enthaltene eindeutige Verweisung auf die „gesonderte Mitteilung“ in Anhang B. Von der Erstrichterin erkannte vermeintliche Darstellungsdefizite – nur – dieses Anhanges bei Schriftgröße und Plazierung stehen der Wirksamkeit der Belehrung insgesamt nicht entgegen. Angesichts des konkreten Verweises in der für sich genommen unübersehbaren Belehrung unmittelbar vor den Antragsfragen waren diese zusätzlichen Hinweise für einen durchschnittlichen Versicherungsinteressenten ohne weiteres aufzufinden, ungeachtet dessen, dass sie sich auf der unteren Hälfte der Seite 12, unmittelbar nach einem optisch gleich gestalteten „Anhang A – Weitere Hinweise für den Antragsteller und die zu versichernde(n) Person(en)“ befinden, nachdem insbesondere die Überschrift „Anhang B – Mitteilung nach § 19 Abs. 5 VVG über die Folgen einer Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht“ in Fettdruck gehalten ist und dadurch erkennbar hervorsticht, was der Senat – auch ohne Rücksicht auf die von der Beklagten in zweiter Instanz vorgelegten Farbkopien – schon anhand des von der Klägerin unterzeichneten, nur als Schwarz-Weiß-Kopie vorgelegten Antragsexemplars ohne weiteres feststellen kann.

 

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c) Hinzu kommt, dass eine Belehrung anlässlich der Antragstellung hier ohnehin entbehrlich gewesen wäre, weil nach den Umständen davon ausgegangen werden muss, dass die Geschäftsführerin der Klägerin bei Verletzung der Anzeigeobliegenheit arglistig gehandelt hat.

 

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aa) Verletzt der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG arglistig, so kann der Versicherer auch dann vom Vertrag zurücktreten, wenn er den Versicherungsnehmer nicht entsprechend den Anforderungen des § 19 Abs. 5 VVG belehrt hat (BGH, Urteil vom 12. März 2014 – IV ZR 306/13, BGHZ 200, 286). Arglistiges Handeln ist anzunehmen, wenn der Versicherungsnehmer (bzw. der Versicherte, §§ 156, 176 VVG; Schneider in: Prölss/Martin, a.a.O., § 156 Rn. 2) gefahrerhebliche Umstände kennt, sie dem Versicherer wissentlich verschweigt und dabei billigend in Kauf nimmt, dass dieser sich eine unzutreffende Vorstellung über das Risiko bildet und dadurch in seiner Entscheidung über den Abschluss des Versicherungsvertrags beeinflusst werden kann (BGH, Urteil vom 14. Juli 2004 – IV ZR 161/03, VersR 2004, 1297; Senat, Urteil vom 9. Mai 2018 – 5 U 23/16, RuS 2019, 214). Voraussetzung ist, dass dem Versicherungsnehmer bei der Beantwortung der Fragen nach dem Gesundheitszustand oder nach früheren Behandlungen bewusst ist, dass die Nichterwähnung der nachgefragten Umstände geeignet ist, die Entschließung des Versicherers über die Annahme des Antrags zu beeinflussen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2017 – IV ZR 30/16, VersR 2017, 937; Senat, Urteil vom 1. Februar 2006 – 5 U 207/05-17, VersR 2006, 1482). Der Versicherer muss insoweit beweisen, dass der Versicherungsnehmer mit Hilfe der Abgabe einer falschen Erklärung auf den Willen des Versicherers einwirken wollte, sich also bewusst war, der Versicherer werde seinen Antrag nicht oder möglicherweise nur unter erschwerten Bedingungen annehmen, wenn der Versicherungsnehmer die Fragen wahrheitsgemäß beantworten würde (BGH, Versäumnisurteil vom 24. November 2010 – IV ZR 252/08, VersR 2011, 338; Senat, Urteil vom 9. Mai 2018 – 5 U 23/16, RuS 2019, 214; Beschluss vom 19. Juli 2006 – 5 W 138/06-46, NJW-RR 2006, 1467).

 

31

bb) Im Streitfall hat der Senat aufgrund der Angaben der Geschäftsführerin der Klägerin in ihrer persönlichen Anhörung und der Gesamtumstände keine Zweifel, dass diese die ihr gestellten Gesundheitsfragen ausnahmslos mit „nein“ beantwortete, obschon ihr bewusst war, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, und dass sie das auch tat, um dadurch den beantragten Versicherungsschutz nicht zu gefährden (§ 286 ZPO). Ihre wiederholte Behauptung, sich trotz entsprechender ausdrücklicher Nachfragen „nicht erinnern zu können“, verbunden mit der weiteren Einlassung, sie sei „nicht so arg“ erkrankt gewesen oder behandelt worden, dass dies hätte angegeben werden müssen, belegt, dass sie die unzutreffende oder unvollständige Beantwortung der Antragsfragen bewusst in Kauf nahm und ihr schlichtes ausnahmslos ungeprüftes Verneinen ins Blaue hinein erfolgt ist. Dabei war der Geschäftsführerin der Klägerin die Bedeutung der ihr gestellten Fragen, die ihr nach eigenen Angaben im Einzelnen vorgelesen wurden, bekannt und bewusst, wie ihre weitere Erklärung betreffend ihre an Epilepsie erkrankte Freundin, deren Antrag nach Angabe dieser Erkrankung abgelehnt worden sei, verdeutlicht. Berücksichtigt man zudem, dass es sich bei den verschwiegenen Umständen objektiv nicht um Bagatellen handelte, sondern um Behandlungen wegen Erkrankungen oder Beschwerden, die für den Berufsunfähigkeitsversicherer offenkundig von Belang sind, die hier außerdem mit nicht unerheblichen körperlichen Eingriffen, zum Teil nur wenige Monate vor Antragstellung, einher gingen und aus deren Anlass auch wiederholt Medikamente verordnet wurden, wobei in einem Fall, um das Antidepressivum Trimipramin zu verordnen, ein „grünes“ Rezept verwendet wurde, das – was allgemein bekannt ist – nicht mit der gesetzlichen Krankenkasse abgerechnet werden kann und üblicherweise dazu dient, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zu verordnen, drängt sich der Schluss auf, dass die Geschäftsführerin der Klägerin diese Angaben deshalb unterließ, weil sie fürchtete, dass der Antrag ansonsten nicht oder nur zu schlechteren Bedingungen angenommen werden würde. In einem solchen Fall der nachgewiesenen Arglist bedarf es für den wirksamen Rücktritt keiner (ordnungsgemäßen) Belehrung nach § 19 Abs. 5 VVG durch den Versicherer.

 

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4. Die Beklagte hat den Rücktritt rechtzeitig, innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist und vor Ablauf der Ausschlussfrist von fünf Jahren nach Vertragsschluss, in der gesetzlich vorgesehenen Form erklärt. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 VVG muss der Versicherer die ihm nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG zustehenden Rechte, d.h. insbesondere den Rücktritt, innerhalb eines Monats schriftlich geltend machen; die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem der Versicherer von der Verletzung der Anzeigepflicht, die das von ihm geltend gemachte Recht begründet, Kenntnis erlangt. Diese Frist wurde hier gewahrt. Unstreitig erfuhr die Beklagte von den Umständen, die sie zum Rücktritt vom Vertrag berechtigten, erstmals aufgrund der nach Anmeldung von Ansprüchen und Abgabe einer Selbstauskunft durch die Geschäftsführerin der Klägerin eingeholten Auskunft ihres Hausarztes, der das Formular der Beklagten am 28. August 2018 ausfüllte und ihr „einige Tage später“ die Behandlungsunterlagen mit den maßgeblichen Informationen zukommen ließ. Der mit am 25. September 2018 zugegangenen, auf diese Umstände gestützten Schreiben vom 20. September 2018 erklärte Rücktritt ist damit zweifelsfrei binnen Monatsfrist erfolgt. Nachdem der Versicherungsvertrag aufgrund des Antrages vom 11. November 2014 durch Ausfertigung des Versicherungsscheines vom 24. November 2014 zustande gekommen ist, erfolgte der Rücktritt auch innerhalb von fünf Jahren nach Vertragsschluss, so dass die Ausschlussfrist des § 21 Abs. 3 Satz 1 VVG ebenfalls gewahrt ist.

335. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

34Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht zuzulassen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

 

35

Der Streitwert des vorliegenden Berufungsverfahrens beträgt 17.959,- Euro (§§ 3, 4, 9 ZPO, §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 GKG).

 

Begehrt der Versicherungsnehmer einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung – wie hier – die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag trotz Anfechtung oder Rücktritts des Versicherers fortbestehe, konkretisiert sich seine Beschwer und damit zugleich auch sein Interesse an der entsprechenden Feststellung in der Rentenleistungsverpflichtung und der Pflicht zur Beitragsfreistellung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Mai 2000 – IV ZR 294/99, VersR 2001, 600; Beschluss vom 6. Oktober 2011 – IV ZR 183/10, VersR 2012, 76). Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes von den 3,5-fachen Jahresbeträgen der begehrten monatlichen Rentenleistung und der monatlichen Prämie (§§ 3, 9 ZPO) ein Abschlag von 50 Prozent vorzunehmen, wenn der Eintritt des Versicherungsfalles, mithin der Berufsunfähigkeit im Sinne der vereinbarten Bedingungen, noch ungeklärt ist, während sich bei bereits geklärter Berufsunfähigkeit der Feststellungsabschlag auf 20 Prozent beläuft (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2011 – IV ZR 183/10, VersR 2012, 76). Dagegen ist das Interesse an der begehrten Feststellung auf (lediglich) 20 Prozent der versprochenen Leistungen zu bemessen, wenn es nur im Hinblick auf künftige (weitere) Versicherungsfälle gegeben sein kann; so etwa, wenn sich der Versicherungsnehmer keiner Ansprüche aus einem Versicherungsfall berühmt (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2000 – IV ZR 279/99, VersR 2001, 600; Senat, Urteil vom 15. Februar 2023 – 5 U 36/22, VersR 2023, 425), oder wenn neben der Feststellungsklage auch eine Leistungsklage rechtshängig gemacht wird, mit der der Versicherungsnehmer Zahlungen aufgrund eines behaupteten (eingetretenen) Versicherungsfalles begehrt (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2011 – IV ZR 183/10, VersR 2012, 76). Dem steht der vorliegende Fall gleich, nachdem die Beklagte – vorprozessual – ihre Eintrittspflicht gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 VVG ohne Rücksicht auf den von ihr erklärten Rücktritt anerkannt hat und sich das wirtschaftliche Interesse der Klägerin an der begehrten Feststellung daher nur noch auf etwaige künftige weitere Versicherungsfälle reduziert, deren Eintritt noch ungewiss ist. Das rechtfertigt es, das Interesse der Klägerin – entgegen der erstinstanzlichen Festsetzung, die insoweit zugleich korrigiert werden musste – mit lediglich 20 Prozent des dreieinhalbfachen Jahresbetrages der Summe aus Rentenleistung und Prämie zu bemessen. Ausgehend von den maßgeblichen Beträgen, die das Landgericht unwidersprochen zugrunde gelegt hat, konkret: 1.999,99 Euro (monatliche Rente) und 1.656,- Euro (Jahresprämie), beläuft sich der dreieinhalbfache Jahresbetrag auf 89.795,58 Euro, 20 Prozent davon ergeben den festgesetzten Streitwert