· 

Anfechtung wegen Nichtangabe von Kniebeschwerden und Gicht

Mit Urteil vom 11.12.2018 (Aktenzeichen: 11 U 72/16) hat das OLG Brandenburg die Anfechtung einer Berufsunfähigkeitsversicherung für wirksam angesehen, weil der Versicherungsnehmer Behandlungen wegen Beschwerden im Knie, Gicht, im Ellenbogen und Stressreaktionen bei der Antragstellung nicht erwähnt hatte.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Die Klägerin ist Alleinerbin ihres während des Rechtsstreits am 11.09.2017 verstorbenen Ehemannes J… W… Der Erblasser, der am …01.1960 geboren worden war und zuletzt als Berufskraftfahrer für Lastwagen im internationalen Fernverkehr tätig gewesen ist, hat die Beklagte, einen Lebensversicherer, aus einer am 21.04. 2006 beantragten (ausgefülltes Formular in Kopie GA I 29 ff.), vom Zeugen M… G… vermittelten und laut Police Nr. 33788527 vom 01.06.2006 (Kopie GA III 556 ff.) zu den Allgemeinen Bedingungen für die Selbstständige Berufsunfähigkeits-Versicherung (GA III 584 ff.), künftig zitiert als AB SBUV, abgeschlossenen selbständigen Berufsunfähigkeitsversicherung auf Zahlung einer monatlichen Rente ab 01.02.2009 wegen Berufsunfähigkeit in Anspruch genommen. Im Zuge der Leistungsprüfung erklärte die Rechtsmittelgegnerin mit Schreiben vom 05.11.2009 (Kopie GA I 25 f.) den Rücktritt von dem Versicherungsgeschäft und mit Schreiben vom 24.08.2010 (Kopie GA I 27 f.) dessen Anfechtung, wobei sie sich jeweils auf eine - im Rahmen ihrer Nachforschungen zutage getretene - Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht berief. Zur näheren Darstellung sowohl des Sachverhaltes als auch der erstinstanzlichen Prozessgeschichte wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung (LGU 2 ff.) Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). In der Berufungsinstanz steht der Eintritt der Berufsunfähigkeit der versicherten Person an sich zwischen den Parteien nicht mehr im Streit.

 

Das Gericht hat das Urteil auszugsweise wie folgt begründet: 

 

[...]

Der Ehemann der Klägerin hat bei Beantragung des Berufsunfähigkeitsschutzes gefahrerhebliche Umstände verschwiegen. Da der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im Streitfall vor dem Inkrafttreten der VVG-Novelle 2008 liegt, beurteilt sich die Frage, ob der Versicherungsnehmer gegen seine vorvertragliche Anzeigeobliegenheit verstoßen hat, noch nach altem Recht; für die Folgen gilt indes bereits das neue (sog. intertemporales Spaltungsmodell; vgl. dazu die Begründung zum Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, BT-Drucks. 16/3945, S. 47, 118; ferner BeckOK-VVG/Spuhl, 4. Edition, § 19 Rdn. 18 f.; Langheid in Langheid/Rixecker, VVG, 5. Aufl., § 19 Rdn. 16; jeweils m.w.N.). Gemäß § 16 Abs. 1 VVG a.F. hatte ein Versicherungsnehmer dem Versicherer bei Vertragsabschluss alle ihm bekannten Umstände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, anzuzeigen, wobei als relevant die Gefahrumstände anzusehen waren, die sich dazu eigneten, den Entschluss des Versicherers zu beeinflussen, den Vertrag überhaupt oder zu dem vereinbarten Inhalt abzuschließen, und ein Umstand, nach dem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, im Zweifel als erheblich galt.

 

Hier wollte die Beklagte laut der im Antragsformular enthaltenen Gesundheitsfrage Nr. 2 wissen, ob die zu versichernde Person in den letzten zehn Jahren wegen dort näher bezeichneter Erkrankungen, Beschwerden oder Leiden in ärztlicher Behandlung war, darunter wegen Beschwerden der Wirbelsäule und Gelenke (z. B. Bandscheibenvorfall, Rheuma, Gicht), psychischer Leiden/Nerven- oder Geisteskrankheiten (z. B. Depressionen, Selbstmordversuch) oder Suchterkrankungen. Außerdem hat sie generell nach ärztlichen oder anderen Behandlungen, Krankenhaus-, Heil- oder Kuraufenthalten in den zurückliegenden fünf Jahren gefragt (Antragsfrage Nr. 3). Beide Fragen sind im Formular am 21. 04.2006 mit Nein beantwortet worden.

 

Nach den insoweit nicht zu beanstandenden Feststellungen des Landgerichts, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), ist der Antragsteller in den Jahren von 2000 bis 2005 - zum Teil wiederholt - wegen Kniebeschwerden, Stressreaktionen, einem Gichtanfall und Ellenbogenschmerzen behandelt worden, was er dem Zeugen M… G… auch nicht mündlich mitgeteilt hat (LGU 5 f.). Es ist zwar zutreffend, dass der frühere Krankenhausaufenthalt des Erblassers an sich schon rein objektiv nicht mehr in den Fünfjahreszeitraum der Gesundheitsfrage Nr. 3 fiel; im Rahmen der Antragsfrage Nr. 2 hätte der Ehemann der Klägerin damals aber angeben müssen, dass er im Jahre 1998 wegen depressiver Stimmungen stationär behandelt wurde, die er selbst auf seinen vermehrten Alkoholkonsum zurückführte; dies gilt unabhängig davon, ob bei ihm tatsächlich eine - zumindest zeitweilige - Alkoholabhängigkeit bestand und ob er als Ursache für die seinerzeitigen Probleme eine besondere Lebenssituation sah, die durch kürzliche Scheidung, Arbeitslosigkeit und finanzielle Schwierigkeiten geprägt war. Deshalb kommt es an dieser Stelle nicht mehr darauf an, dass speziell der laut dem Entlassungsbericht der Psychiatrischen Abteilung des … Krankenhauses vom 26.05.1998 (GA I 35, 36) mit 2,07 µkat/l festgestellte und somit deutlich erhöhte Gamma-GT-Wert (ein Leberwert) für ein ernsteres Problem spricht. Die Zivilkammer ist jedenfalls nach ihrer Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, dass im Antragsgespräch nur von dem Krankenhausaufenthalt als solchem die Rede war, wobei die Angaben des Erblassers dazu schwammig, unklar und ungenau geblieben sind (LGU 6 f.). Hierdurch konnte er seiner Anzeigeobliegenheit nicht gerecht werden.

 

2. Die weiteren Anfechtungsvoraussetzungen gemäß § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB i.V.m. § 22 VVG sind ebenfalls erfüllt.

 

a) Eine lediglich grob fahrlässige Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit zu bejahen und Arglist zu verneinen, wie vom Landgericht angenommen, überzeugt unter den hier gegebenen Umständen nicht.

 

aa) Freilich obliegt dem Versicherer der Nachweis der arglistigen Täuschung, wofür Falsch- oder unvollständige Angaben als solche, deren Vorsätzlichkeit vom Gesetz vermutet wird (arg. § 19 Abs. 3 Satz 1 VVG und § 17 Abs. 2 Alt. 2 VVG a.F.), nicht genügen; vielmehr setzt Arglist in subjektiver Hinsicht ferner voraus, dass der Versicherungsnehmer erkennt und billigt, der Versicherer werde seinen Antrag in Kenntnis des wahren Sachverhalts entweder gar nicht oder nur zu anderen Konditionen annehmen (vgl. BGH, Urt. v. 24.11.2010 - IV ZR 252/08, Rdn. 19, juris = BeckRS 2011, 21; ferner Langheid in Langheid/ Rixecker, VVG, 5. Aufl., § 22 Rdn. 10; jeweils m.w.N.). Allerdings handelt es sich bei der Arglist um eine innere Tatsache, die sich - wenn sie nicht (ausnahmsweise) zugestanden worden ist - allein mithilfe von Indizien nachweisen lässt; dabei spielen - jeweils im Kontext der konkreten Umstände - eine wichtige Rolle die Art, Schwere und Zweckrichtung der Falschangaben, der Umfang der verschwiegenen Tatsachen, die Dauer der Störungen, die Auswahl der genannten und nicht genannten Befunde sowie die zeitliche Nähe zur Antragstellung (so Langheid aaO; MünchKommVVG/Müller-Frank, 2. Aufl., § 22 Rdn. 76; jeweils m.w.N.). Steht fest, dass Angaben beim Vertragsabschluss objektiv falsch gewesen sind, trifft den Versicherungsnehmer eine sekundäre Darlegungslast, in deren Rahmen er substantiiert und nachvollziehbar vortragen muss, wie und weshalb es dazu gekommen ist (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 11.05.2011 - IV ZR 148/09, Rdn. 16, juris = BeckRS 2011, 1436; ferner Langheid aaO Rdn. 11; jeweils m.w.N.). In diesem Zusammenhang geht es um eine Erläuterung der - regelmäßig in der Sphäre des Antragstellers liegenden - Gründe für die Falschangabe wie beispielsweise von Irrtümern, Missverständnissen oder spezifischen Motivationen; kommt der Versicherungsnehmer dem nicht nach, weil er diesbezüglich entweder gar nichts vorträgt oder falsche respektive gänzlich unplausible Erklärungen abgibt, so ist seine Arglist als bewiesen anzusehen (so MünchKommVVG/Müller-Frank aaO Rdn. 78).

 

bb) Im Streitfall ist der Versicherte in den Jahren von 2000 bis 2005 dreimal wegen Knieproblemen, zweimal wegen Stressreaktionen sowie je einmal wegen eines Gichtanfalls in der rechten Großzehe und wegen Ellenbogenschmerzen in ärztlicher Behandlung gewesen, was er auf die - ihm vorgelesene - Gesundheitsfrage Nr. 2, die unter anderem Gelenkprobleme und psychische Leiden betraf, nach den Feststellungen des Landgerichts dem Zeugen M… G… im Antragsgespräch nicht mitgeteilt hat. Selbst wenn er den Gichtanfall als einmaliges Ereignis angesehen haben mag, weil ein solcher nach einer Ernährungsumstellung nicht wieder aufgetreten ist, fehlt eine (plausible) Erklärung dafür, warum die (wiederholten) Knieprobleme und die Ellenbogenschmerzen nicht angegeben wurden. Es lag auf der Hand, dass derartige Gelenkbeschwerden gerade die berufliche Leistungsfähigkeit eines Kraftfahrers für Lastwagen im internationalen Fernverkehr beeinträchtigen, der den weit überwiegenden Teil seiner Arbeitszeit - bewegungsarm in einer kleinen Fahrerkabine sitzend - hinter dem Lenkrad verbringt, immer sofort auf das jeweils aktuelle Verkehrsgeschehen reagieren und dabei erforderlichenfalls rasch die Steuerungselemente des Kraftwagens wie etwa das Gas-, Kupplungs- und Bremspedal oder das Steuerrad bedienen muss. Entsprechendes gilt erst recht für (akute) Stressreaktionen (mit Blutdruckerhöhung), die Anlass waren, sich in medizinische Behandlung zu begeben, und sich nicht ohne Weiteres mit der Erklärung des Ehemannes der Klägerin bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht relativieren lassen, er habe schlicht und einfach mal eine Auszeit respektive ein paar freie Tage benötigt und deswegen beim Arzt eine Erschöpfung angegeben (GA I 137, 138); medizinisches Fachpersonal vermag es durchaus zu erkennen, wenn ein Patient simuliert oder aggraviert. Sollte der Erblasser indes den Behandler in der Tat über seinen wahren Gesundheitszustand getäuscht haben, um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erhalten, so spräche dies auch im Rahmen der hier vorzunehmenden Beurteilung seines Verhaltens bei der Beantragung des Versicherungsschutzes deutlich gegen ihn; es wäre ein Beleg dafür, dass ihm eine solche Verfahrensweise nicht persönlichkeitsfremd gewesen ist.

 

Dem Zeugen M… G…, den das Landgericht als glaubwürdig angesehen hat, ist - wie er in seiner erstinstanzlichen Vernehmung am 16.08.2012 bekundete (GA I 216, 219) - beim Beratungsgespräch aufgefallen, dass sich der Ehemann der Klägerin als positiv gesund darstellte, was für ihn - den Zeugen - Anlass war, betreffend den Gesundheitszustand mehrfach nachzufragen und die entsprechenden Antragsfragen Wort für Wort vorzulesen. Hierzu passt es, dass der Erblasser nach den Feststellungen der Zivilkammer zwar schwammige, unklare und ungenaue Angaben zu dem Krankenhausaufenthalt an sich, nicht aber zu den Gründen dafür gemacht hat. Auch insoweit lag es allerdings auf der Hand, dass eine stationäre Behandlung wegen einer depressiven Sympotmatik, die der Antragsteller selbst auf vermehrten Alkoholkonsum zurückführte, für die Risikobeurteilung durch den Versicherer bei einem Berufskraftfahrer im internationalen Güterverkehr von erheblicher Bedeutung ist, und zwar unabhängig davon, ob später tatsächlich eine Alkoholsucht mit Krankheitswert in Erscheinung trat und ob weitere Behandlungen wegen Depressionen stattgefunden haben. Ein Mitverschulden, das die Anzeigepflichtverletzungen des Ehemanns der Berufungsgegnerin in milderem Licht erscheinen lässt, muss sich die Berufungsführerin - entgegen der Auffassung der Vorinstanz (LGU 7) - im Streitfall nicht anrechnen lassen. Ob unter den gegebenen Umständen überhaupt eine Nachfrageobliegenheit des Versicherers bestand, kann offen bleiben; deren Verletzung führt nach der neueren höchstrichterlichen Judikatur, die der Senat teilt, nicht automatisch zum Verlust des Rechtes zur Arglistanfechtung (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 11.05.2011 - IV ZR 148/09, Rdn. 15 m.w.N., juris = BeckRS 2011, 14362).

 

Ebenso wenig war der Zeuge M… G… bei der Antragsaufnahme als „Auge und Ohr“ der Beklagten anzusehen. Denn dieses in der Rechtsprechung entwickelte Bild, das zu der jetzt in § 70 Satz 1 VVG enthaltenen Regelung über die Kenntniszurechnung geführt hat, bezieht sich - was von der Zivilkammer keineswegs verkannt wurde - lediglich auf (empfangsbevollmächtigte) Versicherungsagenten (vgl. BGH, Beschluss vom 05.07.2017 - IV ZR 508/ 14, Rdn. 16, juris = BeckRS 2017, 117400). Selbst wenn man - mit dem Landgericht (LGU 6 f.) - annimmt, der Versicherer trage nicht allein eine sekundäre Darlegungslast betreffend die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen ihm und dem Versicherungsvermittler, sondern müsse nachweisen, dass Letzterer als Makler des Versicherungsnehmers gehandelt habe, ist die Begründung der angefochtenen Entscheidung insoweit aus tatsächlichen Erwägungen nicht tragfähig; sie lässt sowohl das entsprechende Parteivorbringen der Berufungsführerin als auch das Ergebnis der Beweisaufnahme außer Acht. Bereits mit anwaltlichen Schriftsatz vom 22.03.2012 (GA I 153 ff.) hatte die Beklagte zum Nachweis, dass ihre Streithelferin als Versicherungsmaklerin tätig ist, eine Kopie des Impressums von deren Internetseite (Anlage B3) und einen Auszug aus dem Versicherungsvermittlerregister (Anlage B4) eingereicht sowie sich betreffend das konkret in Rede stehende Versicherungsgeschäft auf das Zeugnis von P… L… und M… G… berufen. Außerdem wurde von ihr eine Ablichtung der Courtagezusage vom 07./18.10.1996 (GA I 159 f.) vorgelegt. Bei seiner erstinstanzlichen Vernehmung im Termin am 16.08.2012 (GA I 216 f.) hat der Zeuge M… G… ausgesagt, er sei selbstständiger Versicherungsmakler und vermittle eigenständig von ihm gewonnene Kunden - ohne Agenturverträge - zu Versicherungsgesellschaften; bei der Streithelferin handele es sich um einen Maklerpool, der die organisatorische Abwicklung und insbesondere die Abrechnung übernehme. Nach der Beweisaufnahme wurden die Parteien durch das Landgericht im Beschluss vom 11.10.2012 (GA II 240) darauf hingewiesen, es gehe davon aus, dass der Vermittler als Makler gehandelt habe. In der Tat liegen somit die Voraussetzungen der Versicherungsmaklerdefinition des § 42a Abs. 3 Satz 1 VVG a.F. vor. Hinzu kommt, dass der Erblasser von sich aus den Zeugen M… G… bestellt hatte, um seinen Versicherungsbedarf insgesamt prüfen zu lassen, unter anderem mit Blick auf die Berufsunfähigkeitsvorsorge (GA I 137 und 276, 278).

 

b) Die Gefahrerheblichkeit der verschwiegenen Umstände wird vom Gesetz vermutet, liegt zudem auf der Hand und ist im Übrigen von der Berufungsführerin durch Auszüge aus den Einschätzungsrichtlinien ihres Rückversicherers (Kopie Anlage B2/GA I 126 ff.) untermauert worden. Es geht dabei keineswegs um gesundheitliche Beeinträchtigungen, die offenkundig belanglos sind und die alsbald von selbst wieder vergehen. Dass sie sich nicht auf den Eintritt des Versicherungsfalles ausgewirkt haben, ist unerheblich, weil § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB allein die Willensfreiheit des Getäuschten schützen soll. Eingetreten ist die Täuschung, weil - im Vertrauen der Beklagten auf die Richtigkeit der Angaben des Ehemannes der Klägerin - das Rechtsgeschäft (speziell die Risikoübernahme) zustande kam.

 

[...]